Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
bunten Kieselsteinen, sammelten Wasserschneckenhäuschen, in denen Krebse wohnten. Sie streckten ihre Vorderbeine heraus, wenn man sie in die Sonne hielt.
„Früher träumte das Proletariat ...“, die anfangs leise Unterhaltung der zwei Nachbarruderer zu seiner Linken wurde unter den Ruderschlägen lauter, „die politische Herrschaft zu erlangen und der Bourgeoisie das Kapital zu entwenden und der Allgemeinheit zuzuführen. Es hat nicht funktioniert. Leider.“
„Die ganze Revolution hat nicht funktioniert“, erwiderte der andere, „sie ging in die Binsen und ich sag dir auch, warum. Weil die Führer ihre Macht bereits im Ansatz missbrauchten.“
„Ich bin selbst heute, nach dem Fall der Mauer, noch immer der Meinung, dass der Reichtum des Landes dem Volk gehört, vom Staat verwaltet und auf alle verteilt wird.“
„Hannes, du bist ein Träumer. Träum ruhig weiter, aber mit dem Staat ist nun mal kein Staat zu machen, glaub mir das.“
„Mit diesem nicht, ganz klar, aber …“
„… mit jedem anderen auch nicht, nicht einmal mit einem Proletarierstaat.“
„Und wieso nicht?“
„Weil das Volk den Staat nie in den Griff kriegt, sondern immer nur der Staat das Volk. Mit Bevormundung, Bürokratie, Bespitzelung und mehr, bis das Volk genug hat und davonläuft. Und Ende und aus.“
„Doch nur bei falscher Organisation. Es gilt, einen Staat mit einer Regierung auf die Beine zu stellen, wie wir sie vorgeben, ein Staat, der nach den Regeln funktioniert, die das Volk vorgibt. Die wir vorgeben.“
„Vielleicht in ein paar Hundert Jahren. Außerdem: Hast du denn vergessen? Jetzt und hier, mein lieber Hannes, geben wir gar nix mehr vor. Unser Staat heißt Repuestos und unsere Regierung Raskolnikoff und in einer Woche sind wir beide in Süd und dann gnade uns Gott.“
Endlich waren die beiden still. Edmund gelang es nicht, die Augen zu schließen und seinen Geist noch einmal auf den Spaziergang nach Port Lligat zu schicken. In der Ecke des Winkels zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand entstand soeben eine Blase, dennoch holte er kräftig aus, drehte den Regulator noch um einen Punkt höher. Eins – und dann – gnade uns – Gott – eins – und dann – gnade uns – Gott – eins – und dann – gnade uns – Gott – eins – und ...
Punkt dreizehn Uhr beendete der Lautsprecher das Fitnesstraining – das Tagesprogramm war überstanden. Edmund hatte es nicht sonderlich eilig. Er schlenderte den Weg zum Umkleideraum zurück und hielt nach Gerd Ausschau. Er konnte ihn nicht finden. Enttäuscht arbeitete er sich bis zu seinem Kleiderfach vor, zog das Turnzeug aus und schlüpfte in seinen Weißbinderanzug, wie er diese Repuestos -Uniform bei sich nannte. Er wollte gerade den Raum verlassen, da sah er Gerd durch die Glastür im Tunnel verschwinden, der zum Parcivalplatz führte. Mied ihn der Junge oder hatte er ihn nicht gesehen? Hastig schlüpfte er in die weißen Schuhe und hechtete ihm hinterher. Vor der Tunnelöffnung ging eine Schranke nieder.
Edmund Konrad! Sie haben Ihr Turnzeug nicht
zurück in den Korb getan, holen Sie das sofort nach -
und außerdem, gerannt wird hier nicht!
Der Vorfall versetzte Edmund in Schrecken. Er wandelte zurück, entsorgte sein Turnzeug in den Korb. Es blieb ihm rätselhaft, warum er sich noch fürchtete. Er war doch nicht mehr auf der Welt, er war verschüttet, tot, konnte es noch schlimmer werden? Erst als er seine Kemenate erreichte, ebbte die Erregung langsam ab. Er verriegelte die Tür hinter sich und lehnte sich erschöpft an die Wand. Er sah das blaue Licht des Monitors blinken und schaltete ihn ein. Auf dem gelbschwarz aufkommenden Bildschirm erschien sein Name in großen Buchstaben und darunter war zu lesen:
Warnung! Die Entgleisung von
vorhin ist die letzte, die wir Ihnen
nachsehen.
Noch ehe Edmund den Sinn begriffen hatte, erschien das nächste Bild. Ein Männerkopf als Cartoonbild legte ihm dringend nahe, die Hausvorschriften eingehend zu studieren und künftig einzuhalten. Abrufbar jederzeit unter I für Information.
Die Lust auf ein ordentliches Mittagessen war ihm gründlich vergangen. Er legte sich auf die Pritsche, starrte die Decke an. Hilflos. Entmutigt. Ohnmächtig gegenüber der allgegenwärtigen Beobachtungsmaschinerie. Er hörte ein Geräusch. Hatte es da nicht eben an die Tür geklopft? Es klopfte erneut.
Draußen stand Gerd.
„Darf ich eine Minute hereinkommen?“
„Bist du sicher, dass das
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