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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne Reuther
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wir auch drüben nicht.“
    Edmund staunte über die Optimistin zu seiner Linken. Auf ihrem weißen Drillichanzug leuchtete eine dreireihige Glasperlenkette, an ihren Ohren baumelten glitzernde Gehänge. Es war die alte Dame aus Ferdinands Bistro.
    „Sehr freundlich, Elisabeth Koch, dass Sie das sagen, aber hungern oder nicht, das Ende hier im Auffanglager, wenn ich Repuestos -West mal so nennen darf, ist das Ende des Lebens. Danach sind wir verloren, so oder so. Im Grunde genommen spielt es für mich auch keine Rolle mehr. Oben die, ich meine die daheim, kriegen nichts davon mit, haben mich sowieso längst abgeschrieben, und mir selber bin ich ohnehin Wurscht.“
    „Sie sprechen mir aus dem Herzen“, sagte Georg Hahn, ein Mann in den Sechzigern mit einem dreieckigen Gesicht zwischen überdimensionalen Ohren, das lebhaft an einen Fuchs erinnerte. „Mir liegt auch nichts mehr an mir.“ Dabei köpfte er sein Ei so vehement, dass das Gelb über sein Gedeck spritzte.
    „Wieso auch“, Ingrid Gutzkow rührte sich ein Müsli an. „Mein Mann ist tot und mir ist klar, dass ich meine Söhne nie wiedersehen werde, damit hat sichs. Ich wünsche lediglich, vor Schmerzen bewahrt zu bleiben. Sonst nichts. Nicht mehr.“ Sie hatte nach dem Schwimmen versäumt, ihre roten Haare zu bürsten, die jetzt struppig vom Kopf abstanden und den Blick auf die Kahlstellen freigaben.
    „Nicht mal mehr einen Wortwechsel mit Lutz Werner zum Thema Karikaturenstreit?“
    Ingrid Gutzkow wurde puterrot. Sie hatte bei dem Schlagabtausch den Kürzeren gezogen. Ihre kleinen Hände formten sich zu Fäusten, sodass die Knöchel weiß hervortraten, und ihre flinken Augen blitzten ihr Gegenüber angriffslustig an.
    „Mein Scharmützel mit dem Vollidioten hat Sie offensichtlich amüsiert, Hannelore Voß, aber wenn Sie es genau wissen wollen, mich ebenfalls. Und wenn Sie glauben …“
     
    Beenden Sie Ihr Frühstück. In fünf Minuten
    begeben sich alle zur Liegewiese.
     
    Der Lautsprecher, der das Trommelfell schmerzen ließ, hatte die Unterhaltung abrupt beendet. Den Text brummelten einige mit, es war Tag für Tag derselbe. Füße scharrten, Stühle wurden gerückt, Edmund spülte den letzten Bissen mit dem restlichen Kaffee hinunter und stand auf. Hannelore Voß raunte ihm im Vorbeigehen zu: „Nicht vergessen, um drei im Interim .“ Ingrid Gutzkow strich ihr über die Schulter und beteuerte: „Es war nicht bös gemeint.“
    Im Gänsemarsch ging es zur Liegewiese. Gleich links vom Eingang hing ein Korb, darüber in Leuchtschrift:
     
    Entnehmen Sie einen Augenschutz.
     
    Die Liegewiese nahm unter einer niedrigen Decke die Fläche eines halben Fußballfeldes ein. Frotteebezogene Liegematten in Reih und Glied auf einem grünen, genoppten Plastikboden und am Kopfende jeder Matte stand ein Drahtkorb. Die Stimme des Lautsprechers dirigierte die Menschenschlange zwischen die Reihen, bis jeder vor einer Matte stand, und beendete die Anweisung mit der Aufforderung, die wiederum von einigen mitgemurmelt wurde:
     
    Die Körbe dienen der Aufnahme Ihrer
    Kleidung während der Liegezeit.
    Entkleiden Sie sich jetzt, legen Sie
    den Augenschutz an und strecken Sie
    sich auf Ihrer Matte auf dem Rücken
    aus. Sobald der Gong ertönt, drehen
    Sie sich herum und legen sich auf den
    Bauch. Beim nächsten Gong wieder
    auf den Rücken und so weiter.
     
    Und mit verstärktem Ton, dazu murmelte niemand:
     
    Herr Gerstenmüller! Sie sollen sich
    entkleiden! Vollständig! Dies ist eine
    Rüge, eine zweite erfolgt nicht!
     
    Im nächsten Augenblick erschienen an den Enden der drittvordersten Reihe zwei Betriebsschützer, offensichtlich bereit, den Angesprochenen auf Anordnung abzuführen. Ein Mann erhob sich von der Matte, entledigte sich seiner Hose, warf sie in den Korb und legte sich wieder auf den Rücken. Ein frostiger Schauer überzog Edmunds Körper – à la 1984, das Auge des großen Bruders.
    Ruhe kehrte ein. Es roch nach Ozon. Edmund fühlte das ultraviolette Licht auf seiner Haut. Vogelgezwitscher setzte ein und das Plätschern eines Baches.
    „He!“, flüsterte eine Stimme von der Matte rechts neben Edmund, „ich bin Ute und ich fühle mich beschissen.“ Edmund rückte seinen Augenschutz in bessere Position, atmete tief ein.
    „Wir sind es allesamt.“
    Sein Geist wanderte heim. Was machte Lydia, was fühlte sie, was ging in ihr vor? Dachte sie, dass er sich abgesetzt hätte, einfach so? Oder durchgebrannt war mit der attraktiven Deutschlehrerin,

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