Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn, ihr Körper zitterte, aus ihren Augen sprach Angst. Sie mühte sich vergeblich, zu sprechen.
„Keine Angst“, sagte einer der Pfleger, die sie auf die Liege hoben, „der Arzt, Dr. Richter, erwartet Sie, es wird alles wieder gut.“
Sie schoben sie fort und der Putzmann setzte seine Reinigungsmaschine in Bewegung. Vom Lautsprecher erscholl die Aufforderung an alle, weiterzugehen.
In der Vorhalle des Schwimmbades wurde Edmund von der Lautsprecherstimme angewiesen, in den Sanitätsraum nebenan zu treten. Ein Pfleger entnahm ihm vier Röhrchen Blut aus der Armbeuge, legte einen wasserdichten Druckverband auf der Einstichstelle an und schickte ihn in die Halle zurück.
Sie zogen ihre Kleider aus und warfen sie auf das Fließband zur Wäscherei. Edmund erreichte noch das Ende der Schlange. Eine Schranke regelte den Zugang in kleinen Gruppen zur Schwimmhalle, sodass sich das vierzig mal sechzig Meter große Becken gemächlich mit den Badenden füllte.
Noch immer war von Gerd nichts zu sehen, zu unübersichtlich war das Gewimmel im Wasser. Edmund war das recht. In seiner Nacktheit fühlte er sich unter Fremden weniger entwürdigt als vor seinem Schüler. Ein Schwimmer überholte ihn kraulend und das mit solch aufwendigem Geplansche, dass er heftig erschrak – sechs Jahre zurückversetzt ins Sturmgebrause vor den Lofoten – alle dulden wir die gleiche Strafe . Abwechselnd schossen Arme und Beine des über Bord Gegangenen aus der Gischt der Heckwelle hervor, bevor ein Kaventsmann ihn unter sich verschlang – aus gleicher Ursach . Edmund schüttelte die Vision von sich, rang nach Luft, tauchte unter, stieß sich mit kräftigen Stößen voran und stieß am Ende der Bahn mit seinem Kopf unsanft gegen die Wand.
Um halb sieben ließ ein Gong die Luft vibrieren. In geordneten Formationen entstiegen die Badenden nach Lautsprecheranweisung grüppchenweise dem Wasser. Die Stimme dirigierte sie durch Duschstraße und Trockenschleuse zu dem Raum mit den nummerierten Spinden. In der Nummer hundertdreiundzwanzig fand Edmund, wie Gerd gesagt hatte, frische Sachen in seiner Größe.
Beeilen Sie sich mit dem Ankleiden und
begeben Sie sich zum Frühstückssaal,
tönte es von oben. Die Masse trampelte zur Krähengasse. Edmund studierte die Sitzordnung neben der Eingangstür. Sein Platz war an Tisch Nummer einundzwanzig. Gerd war dem Tisch Nummer sieben zugeordnet.
Das Büfett war eine zehn Meter lange Verführungslandschaft erlesenster Leckerbissen.
Laden Sie nur so viel auf Ihr Tablett, wie Sie verzehren können. Es dürfen keine Reste bleiben.
Edmund wollte von allem Berge verschlingen, hielt sich jedoch sehr zurück, er wusste nicht, wie sein Magen, dem er seit anderthalb Tagen außer einem halben Brötchen nichts zugestanden hatte, reagieren würde. Er trug sein Tablett mit einer Scheibe Weißbrot, etwas Butter, einem weich gekochten Ei und einer Tasse schwarzen Kaffee zu Tisch Nr. einundzwanzig und murmelte, in die Runde blickend: „Guten Morgen.“ Fünf Stimmen murmelten zurück. Sein Platz war an der Stirnseite, wie er an dem Namensschild hinter der aufgefächerten Serviette erkennen konnte. Die weißen Schilder waren beidseitig mit Vor- und Zunamen blau bedruckt und so aufgestellt, dass jeder seine fünf Tischnachbarn ohne Umstände mit Namen ansprechen konnte. Kurioserweise redeten sie hier einander mit Vor- und Zunamen an.
Edmund war nicht nach Unterhaltung zumute. Er nahm sein Frühstück stumm ein – im vollen Bewusstsein der Unhöflichkeit, die ihn zu seinem Erstaunen nicht störte. Erstes Zeichen einer Persönlichkeitsveränderung? Niemand hier am Tisch war aus der Adlergasse, doch er entdeckte ein bekanntes Gesicht: Hannelore Voß saß ihm schräg gegenüber. Sie blinkten sich mit den Augen zu. Edmund zählte stumm die Tische ab bis zu der Nummer sieben – und da saß er, Gerd. Mit dem Rücken zu ihm. Durch den Saal ging ein Raunen wie zur Gebetsstunde eines tibetanischen Klosters, begleitet vom Klirren der Bestecke. Rechts von Hannelore saß der braune Lockenkopf aus Ferdinands Bistro. Er war noch blasser als gestern abend und er sagte mit Grabesstimme:
„Meine Galgenfrist läuft morgen ab. Im Südkamp wird es spannend.“ Er beträufelte eine Auster mit Zitronensaft und schlürfte sie geräuschvoll aus.
„Keine Sorge, Ludwig Zimmermann, das Leben geht weiter, irgendwie, und wir alle folgen Ihnen, ich übrigens bereits in einer Woche. Und hungern werden
Weitere Kostenlose Bücher