Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
aufstieg. Edmund stutzte. Die aufgeräumte und gepflegte Frau von gestern sah ihm unter zerzauster Frisur mit rot verweinten Augen an.
„Stimmt was nicht?“, sagte er zur Begrüßung.
„Sie machen mir Spaß. Hier stimmt nicht nur was nicht, sondern überhaupt nichts. Noch nicht mitgekriegt?“
„Schon, aber ...“, er hob einfältig die Arme.
„Manchmal schaff ich es einfach nicht, mich zu beruhigen. Heute ist so ein Tag. Ich komme mit der Situation nicht klar, wenn mich ein Traum wie der in der letzen Nacht aus meinem mühsam errichteten Kokon-Fatalismus schleudert. Mir träumte, unsere Kleinste sei aus dem Fenster gefallen. Wir wohnen im dritten Stock.“
„Wie viele Kinder haben Sie?“
„Drei Mädchen. Neun, sieben und vier Jahre alt. Meine Eltern wohnen mit uns auf der gleichen Etage, ich muss mir um ihre Versorgung keine Gedanken machen. Ich messe dem Traum keine Bedeutung bei. Aber er hat mein Heimweh wieder so richtig hochgekocht.
Als ob Edmund die Frage nach dem Vater im Gesicht stünde, fuhr sie fort:
„Hätte ich dem Drängen meines Mannes nachgegeben, wäre uns das Unglück Repuestos nicht widerfahren. Sein Arbeitgeber, die Firma Erichson & Walz AG, hat ihn für fünf Jahre in die Niederlassung nach Saudi Arabien verpflichtet. Er hatte keine andere Wahl, als zuzusagen, und nicht darauf bestanden, dass ich mit den Kindern mitkomme, mich aber doch eindringlich darum gebeten. Ich hatte zuvor zwei Wochen lang Gelegenheit gehabt, das Land der Saudis kennenzulernen. Fünf Jahre in einer derart frauenverachtenden Umgebung zu verbringen, das kam für mich nicht infrage. Woandershin wäre ich ihm jederzeit gefolgt, bereit, meine Werkstatt aufzugeben, meine Kunden, meine Arbeit. Ich hätte im Unterrichten unserer Kinder Erfüllung gefunden.“
„Werkstatt! Lassen Sie mich raten ... Sie sind Bildhauerin.“
„Voll daneben. Nicht Felsen oder Steine sind mein Material, sondern Samt und Seide, Batist, feines Tuch. Im Gymnasium war ich bis auf Mathe und Zeichnen in allen Fächern mittelmäßig bis schlecht, schaffte nur mit Mühe und Not die Versetzungen und sauste schließlich mit Pauken und Trompeten durchs Abi. Die Zwölf wiederholen kam für mich nicht infrage, hatte von der Penne die Nase gestrichen voll, machte eine Schneiderlehre und bereute das nie. Seit einigen Jahren bin ich Modedesignerin. Entwerfe und schneidere Modelle im Auftrag von Modehäusern, erstelle Kollektionen für Ausstellungen und Modemessen wie die IGEDO in Düsseldorf. Jetzt hab ich schon wieder in der Gegenwart gesprochen, dabei ist das alles vergangen. – Es war einmal …“
Sie verstummte und bearbeitete ihre aufgeworfenen Lippen mit den Zähnen, sodass sie drall hervorstanden und ihrem Gesicht einen kindhaften Ausdruck verliehen.
„Ja – es war einmal. Ein Märchen, das hinter uns liegt.“
„Und vor uns die Hölle.“ Hannelore besprühte ein Taschentuch mit Kölnisch Wasser und wischte damit über ihre Schläfen.
„Egal, wo auf oder in der Welt du dich gerade befindest“, erwiderte Edmund, „verdüstere deinen Geist nicht mit Angst und Sorgen von morgen. Morgen kommt erst noch, heute ist der Tag, den du in der Hand hast, mach das Beste draus – oder so ähnlich – das stammt nicht von mir, ich habe das vorhin vom Friseur vernommen, von dem ich mich rasieren ließ. – Man könnte es versuchen.“
Hannelore betrachtete den Neuling mitleidvoll. Die Offenbarung im Forum stand ihm ja noch bevor!
„Ja. Versuchen. Durch Ablenkung. Darüber wollten wir ja sprechen. Wird das was – mit unserem kleinen Geometrie-Unterricht, meine ich?“
„Jaja, die Frage ist, wie kommen wir an das benötigte Material. In den Boutiquen und Läden hier ist fast alles zu haben, Zeichenpapier, Stifte zum Schreiben und Zeichnen, Zirkel und so weiter, aber nicht …“
„Keine Sorge. Im Atelier steht ein Ausgabe-Automat mit allen Schreib- und Malutensilien. Es ist ein blau-weiß gestreiftes Gerät von der Größe einer öffentlichen Fernsprechzelle. An der Vorderseite sind auf einem Bildschirm die verfügbaren Artikel aufgelistet, die man jeweils durch Berühren der nebenstehenden Sensortasten anfordert. Die Teile werden einzeln – unter Videoüberwachung wie alles hier – zusammen mit dem Portrait des Entnehmenden registriert und müssen vor Verlassen einem Rückgabe-Automaten eingefüttert werden, wobei die elektronische Registrierung Stück für Stück wieder gelöscht wird. Die beschriebenen oder bemalten Bögen kann man
Weitere Kostenlose Bücher