Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
hätte länger hier bleiben können. Aber es hat nicht geklappt. Weiß der Teufel, wie es ihnen jetzt geht.
Hinter der Schiebetür finden Sie Toilette und Dusche. Das rote Ding da an der Wand ist eine Alarmglocke, bitte nur im Notfall gebrauchen. Ich muss jetzt los und ich sage nicht ‚angenehmen Aufenthalt‘, sondern ‚Augen zu und durch‘.“
Die Augen schlossen sich nicht. Er probte „Augen zu und durch“, doch sie klappten automatisch auf, sooft er sie zumachte. Dass die Verbrecher ihn oben an Monitoren beobachteten, ließ ihn keine Ruhe finden, keinen Schlaf.
Nach drei Tagen brachte Feldmann ihn abends gegen acht in seine Kemenate. Was er nie für möglich gehalten hätte: Ein Glücksgefühl überflutete ihn beim Betreten seiner Zelle. Er fiel bäuchlings auf die Matratze und weinte vor Glück, mit sich allein zu sein. Das ging gleich über in verzweifeltes Schluchzen und zum ersten Mal in seinem Leben sehnte er sich nach dem Tod. Er fiel bald in tiefen Schlaf, schlief die Nacht hindurch bis zum Wecken und war immer noch nicht ausgeschlafen, als ihn die durchdringende Glocke früh um sechs aufschreckte.
An diesem Vormittag fiel ihm alles schwer, das Schwimmen, die Gymnastik. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Kommandos auf der Liegewiese zu befolgen. Nur nicht auffallen. Leichte Übelkeit befiel ihn.
Er wandelte nach der letzten Stunde des Pflichtprogramms direkt „nach Hause“ und legte sich aufs Bett. Er schämte sich der Todessehnsucht von gestern. Er wollte leben und er wollte frei sein. Er musste hier raus! Und er musste mit ihnen reden. Mit Gerd, mit Angela und Gustav.
Entschlossen verließ er seine Kemenate und klopfte gegenüber an die Tür. Niemand zu Hause. Tischzeit!
Im „Orchideenhaus“ waren sie nicht, das konnte er vom Eingang her überblicken. Im „Liliengarten“ suchte er vergeblich und auch im „Tulpenkorb“. Seine Füße protestierten. Er blieb hier und streckte die Beine unter dem erstbesten freien Tisch weit aus. Hunger hatte er sowieso. Ein Kellner kam auf ihn zu, doch der schwenkte zwei Tische vor ihm rechts zur blauen Tür. Die öffnete sich und eine verstört um sich blickende Frau betrat den Raum. Der Kellner sprach auf sie ein und geleitete sie zu einem sehr jungen Mann, einem Knaben fast, der von seinem Tisch aufsprang und ihr entgegeneilte. Ein Sohn empfing seine Mutter in der Hölle ...
Edmund bestellte eine Kürbissuppe mit Hechtklößchen, Zanderfilet mit Waldorfgemüse, eine kleine Flasche Mineralwasser, Kalbsleber mit Walnüssen, Preiselbeeren und Kartoffelkroketten. Für hinterher Eis mit Heiß. Hungern brachte nichts, schon gar keine Erkenntnisse und davon brauchte er eine ganze Menge.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich zu Ihnen an den Tisch. Ich heiße Laura Schneider.“
„Bitte, nehmen Sie Platz. Ich heiße …“
„Edmund Konrad, ich weiß. Sie waren Lehrer an der
Hellmann-Schule.“
Das saß wie ein Keulenschlag. Ganz klar: Er war Lehrer. Und jetzt im Hades. Hier trafen sich die Toten. Frau Schneider missdeutete sein schweigsames Grübeln.
„Wir kennen uns nicht von oben “, sagte sie und zeigte mit der Hand zur Decke. Der Kellner trat hinzu. Sie bestellte eine Zwiebelsuppe, ein Champignonomelett und rote Grütze mit Sahne. „Ich erkenne Sie nach dem Bild in der Zeitung wieder. Haben Sie tatsächlich einen Schüler umgebracht?“
„Nein. Ist Ihre Frage damit beantwortet?“
„Ja. Und meine Menschenkenntnis, auf die ich stolz bin, ist bestätigt.“
Edmund sah verdutzt auf. Er war eben im Begriff gewesen, wütend zu werden.
„Nach dem Essen geh‘ ich zum Zeitungsstand rüber, um zu prüfen, ob die Schreiberlinge diesen Unsinn inzwischen zurückgenommen haben.“
„Haben sie nicht, das wäre mir aufgefallen. Ich lese die Zeitungen Tag für Tag. Das ist meine Hauptbeschäftigung in Repuestos … Vor einigen Tagen brachten sie übrigens eine Notiz über uns.“
„Sie scherzen!?“
„Nein, allerdings nur eine kurze Meldung über rätselhaftes Verschwinden von Personen aus Frankfurt und Umgebung. – Aber ist das jetzt noch wichtig? Ich meine, ob sie den Unsinn über Sie zurückgenommen haben oder nicht?“
„Und wie! Zum Beispiel für meine Frau.“
„Ja. Das ist wahr. Vielleicht wird eines Tages auch für uns hier unten alles wieder wichtig. Nämlich wenn es uns gelingt, einen Weg hier heraus zu finden.“
„Ja. Wenn.“
„Freitagnacht nahmen sie einen hopp, vermutlich, weil er versucht hat ...“
„…
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