Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
darauf.“ Er wandte sich wieder seinem Schachbrett zu, schnäuzte sich umständlich und ließ ein Pferd auf H 7 springen.
Auch am voll besetzten, von Neugierigen in Doppelreihen umstandenen Roulette-Tisch waren Angela und Gustav nicht zu entdecken. Weder sie noch Gerd. Edmund schob sich durch den Saal und durchforschte die anderen Spielgruppen. An einem der hinteren Tische wurde seltsam apathisch Rommé gespielt, fünf blasse Frauen, stumm, gespenstisch wie Geister, legten ihre Karten aus. Darunter Laura Schneider. Die war in ihr Blatt vertieft und bemerkte ihn nicht. Gut so. Edmund verließ den Saal. Er fühlte sich leer und wandelte planlos durch die Gassen und Pfade der Geisterkolonie. Wo noch die Freunde suchen?
Die lebenden Bilder der Aquarienwände links und rechts am hinteren Teil der Kleibergasse schürten Erinnerungen wach, weckten Sehnsüchte, führten die Gedanken aus Repuestos hinaus. Ein Feuerfisch schwamm auf ihn zu, baute sich vor ihm auf, als wolle er mit ihm sprechen. Er machte sein Maul auf und zu, Edmund tat es ihm gleich und so unterhielten sie sich stumm und einvernehmlich.
„Die haben es besser als wir.“
Eine verzagte Stimme. Edmund wandte sich nicht um. Er nickte zustimmend.
„Ich sehe Sie zum ersten Mal, sind Sie neu?“
„Ziemlich. Seit gut zwei Wochen, wenn ich nicht irre.“ Dabei war ihm zumute, als vegetiere er bereits ein halbes Leben hier unten.
„Und das Forum – haben Sie es schon hinter sich?“
„Hm.“
„Also immerhin – ich beneide Sie. Sie haben fast noch ein Vierteljahr unversehrtes Leben vor sich. Meine drei Monate sind kommenden Freitag zu Ende. Ich habe sie mit Hadern verschwendet, diese Zeit des Glücks, statt zu leben und für jeden Tag dankbar zu atmen.“
Jetzt wandte Edmund sich abrupt um.
„Dankbar des Glücks voller Angst, Wut und Verzweiflung???“
„Was sollen wir nur tun? Uns gehorsam zur Schlachtbank begeben? Mein Gott!“
Er fiel auf die Knie, als erwarte er von ihm Hilfe. Armer Tropf, dachte Edmund, sein Verstand hat Not gelitten.
„Um Himmels willen, Mann, stehen Sie auf! Ich kann Ihnen nicht helfen, so wenig wie Sie mir.“
„Meine Mutter hat mich nicht als Ersatzteilkollektion für irgendwelche Bonzen geboren.“
„Meine mich auch nicht.“ Edmund reichte ihm die Hand, er aber schüttelte den Kopf, faltete die Hände und sah flehentlich zu ihm auf. Das überforderte Edmunds Edelmut. Er drehte sich um und wandelte davon.
In der „Tangostube“ spielte einer am Klavier zum Tanz auf, Paare drehten sich auf dem Parkett, weltvergessen, mit Leidenschaft, und über dem Ausschank leuchtete die Information:
Heute limitiertes Angebot alkoholischer Getränke.
Edmund bestellte ein Pils und tippte seine Kemenatennummer ein. Damit waren zwei seiner acht Punkte verbraucht. Er sah zu den Tanzenden hinüber. Auch hier waren weder Gerd noch Angela oder Gustav auszumachen. Dafür erblickte er Ute aus Kemenate zwölf, die ihm ihren Liebeshunger auf der Liegewiese schon etliche Male zugeflüstert hatte. Sie kam auf ihn zu, forderte ihn zum Tanz auf und setzte sich, als er abwinkte, neben ihn an den Tresen.
„Wenn Sie schon nicht mit mir tanzen, spendieren Sie mir wenigstens einen Drink. Sie schöpfen Ihr Kontingent ja doch nicht aus.“
„Das lassen wir bleiben, junge Frau. Wer weiß, vielleicht würde das als Verstoß gewertet.“
„Mann, sag Ute und Du zu mir, du bist doch Edmund, gell?“
„Stimmt und deine Anmache nervt. Zieh‘ Leine!“
„Ach! Und was hältst du davon?“ Ute beugte sich vor und griff ihm blitzschnell zwischen die Schenkel. Um ein Haar hätte er sie geohrfeigt, besann sich aber im letzten Augenblick auf das Verbot von Handgreiflichkeiten. Er rutschte vom Hocker, ließ sein Bier stehen und ging. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie gierig sein Glas austrank. Im Gang draußen atmete er tief durch. Seine Erektion machte ihn wütend. Ein schmerzhafter Krampf, der erst verebbte, als er die Adlergasse erreichte. Er klopfte wieder an Gustavs Tür. Nichts. Es war kurz vor Mitternacht. In einer Viertelstunde, so fiel ihm ein, begann im „Odeon“ die Aufführung von Orpheus in der Unterwelt . Er machte vor seiner Zelle kehrt, wandelte zum Theater und fand noch einen Platz in der vierten Reihe. Da sah er Angela. Sie saß vor ihm, ohne Gustav. Er beugte sich zu ihr vor und fragte leise: „Habt ihr euch zerstritten?“ Sie hatte seine Stimme erkannt und schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. Edmund ließ sie
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