Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
nicht da.
Er hatte ihnen gestern von Tragödien berichtet, die sich in den wenigen Wochen ereignet hatten, die er nun schon hier war: drei Selbstmorde, zwei Herztote und zwei Einweisungen in die Apathie. Heute wollte er ihnen eine Idee unterbreiten. „Wo er nur bleibt?“
Das Lokal füllte sich langsam. Auch Franz blieb nicht aus, Franz Gerschpacher. „In der Langmut zeigt sich die Einsicht des Menschen, und Unheil zu übersehen, ist sein Ruhm.“ Er strich mit der flachen Hand über seinen Schnauzer und verließ das Lokal. Sie warteten immer noch auf Gerd.
„Wo er nur bleibt?“, wiederholte Angela. Sie ließ die Tür nicht aus den Augen.
„Gerd wird gleich kommen. Er war um zwei zum Zahnarzt bestellt. Vielleicht dauert die Behandlung etwas länger.“
„Ich brenne darauf, seinen Vorschlag zu hören.“
„Wird eine seiner Ideen sein. Er hat immer welche“, sagte eine Stimme hinter ihnen. Wiederum saß Jakob Schieferstein an einem Tisch neben ihnen, wiederum klinkte er sich in ihre Unterhaltung ein.“
„Brauchbare?“, fragte Gustav.
„Unrealisierbare. Bis jetzt. Sollte er mal wirklich eine haben, über die es sich lohnt nachzudenken, wird es für mich zu spät sein, heil davonzukommen, ich bin bald drüben, in Süd. Ihr habt noch fast ein Vierteljahr. Genießt jede Stunde.“
„Genießen? Hier?“
„Aber ja! In Süd ist Schluss mit lustig. Hier in West leben wir im Schlaraffenland und seine Meinung kann man auch äußern. Das ist der einzige, der wirklich einzige Vorteil gegenüber zu Hause, wo es Ansichten gibt, die unter Strafe stehen. Die sogenannte Demokratie ist der totale Witz, habe ich nicht recht?“
Schieferstein blickte beifallheischend in die Runde und rückte sich auf seinem Stuhl zurecht. Der Beifall blieb aus. Jakob drehte ihnen wieder den Rücken zu und widmete sich seiner Teetasse – überlegte es sich anders und ging fort.
„Ich glaube, der ist jetzt beleidigt. So ganz unrecht hat er ja nicht“, meinte Angela.
„Na weißt du“, sagte Edmund, „ich möchte liebend gern zurück in den totalen Witz.“
Endlich erschien Gerd. Er kam gleich zur Sache:
„Ich habe zwei Ideen. Nr.1: Flaschenpost.“
„Flaschenpost? Wie soll das gehen?“
„Hört zu: Wir organisieren uns irgendwie Papier und Schreibstift. Eventuell eine Serviette und einen Augenbrauenstift. Eine leere Flasch hab ich schon in mei Bud geschmuggelt.“
Gerd sah alle in der Runde an. Niemand verstand seine Idee.
„Flaschenpost? Klar! Die Serviette beschriften wir mit SOS und den Koordinaten von Repuestos , falls wir sie herausfinden, rollen sie zusammen, schieben sie in die Flasche und dann ab damit. Wo ist der Ozean – von hier aus?“
Das war ganz der Alte, fand Gerd. Konnis sarkastische Ader war demnach noch nicht verödet. Im Unterricht seinerzeit hatte er das mit knirschendem Groll ertragen, die Hände unter dem Pult ineinandergekrallt. Hier brachte Konnis Ironie ihn nicht aus der Ruhe.
„Ich kenn aan aus de Ordnungstrupp, der die Maschine bedient, mit der unser Müll in Spezialcontainer gestampft wird. Im Handelshof befördert eine Hebebühne die Container in die Ebene über uns und von dort gelangen sie mit dem Aufzug, der die Lebensmittel herunterbringt, hinauf in die Außenwelt.“
„Und werden dort direkt in die Müllverbrennung gekippt.“ „Vielleicht. Es könnte aber auch sein, dass sie auf einer Müllhalde landen, dort platzt der Sack mit unserer Flasche auf und jemand …“
Edmund schüttelte den Kopf. Es fiel ihm schwer, dem Bub den Strohhalm wegzunehmen, dennoch: Es musste sein.
„Der hauchdünnen Möglichkeit, dass sich diese ausgekochten Verbrecher einen derartigen Leichtsinn leisten und den Repuestos -Müll einfach auf eine Deponie kippen, steht die hohe Wahrscheinlichkeit gegenüber, dass wir geschnappt werden und in der Apathie landen.“
„Ich fürchte, dein Lehrer hat recht“, sagte Gustav.
Angela nickte. „Dennoch“, meinte sie, „wir dürfen nicht aufhören, uns alles Mögliche auszudenken und darüber zu sprechen. Deine zweite Idee, Gerd?“
„Also: Im Finkenpfad sechzehn bis achtzehn wohnen die drei Nigerianer, die uns über den Weg gelaufen sind, als wir das Konzert der Repuestos -Gruppe besuchten, erinnerst du dich, Edmund? Du bewundertest doch noch die Ebenholzfarbe ihrer feinen Haut, die kein bisschen heller war als das kurz gehaltene Kraushaar. Du sagtest danach: Unsere Schergen brauchen wohl hin und wieder auch schwarze Spender ...“
Er sah
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