Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
stehen die Nackenhaare zu Berge, und obwohl es dumm ist, werde ich das Gefühl nicht los, dass wir beobachtet werden.
Tack, der die Gruppe anführt, hebt die Hand. Wir bleiben alle abrupt stehen. Er legt den Kopf schräg, ganz offensichtlich lauscht er auf etwas. Ich halte den Atem an. Es ist still, abgesehen vom üblichen Rascheln der Tiere im Wald und dem sanften Säuseln des Windes.
Dann bekommen wir einen feinen Regen aus Kieselsteinen ab, als hätte jemand sie aus Versehen mit dem Zeh aus einem der oberen Parkdecks gekickt.
Augenblicklich ist alles in wilder Bewegung.
»Runter, runter!«, schreit Max, während wir nach den Waffen greifen, Gewehre von der Schulter nehmen und uns ins Unterholz fallen lassen.
»Kuu-iiee!«
Die Stimme, dieser Ruf, lässt uns erstarren. Ich lege den Kopf in den Nacken und schirme die Augen vor der Sonne ab. Einen Moment glaube ich zu träumen.
Aus einer der dunklen Höhlen der Wabenkonstruktion ist Pippa aufgetaucht und winkt uns jetzt grinsend mit einem roten Taschentuch von einem sonnenüberfluteten Vorsprung aus zu.
»Pippa!«, ruft Raven mit erstickter Stimme. Erst da kann ich es glauben.
»Hallo, ihr«, ruft Pippa herunter. Langsam werden hinter ihr immer mehr Leute sichtbar: Scharenweise dürre, zerlumpte Menschen, die alle Parkdecks füllen.
Als Pippa schließlich unten ankommt, wird sie sofort von Tack, Raven und Max umringt. Auch Beast ist da, er lebt; er tritt direkt hinter Pippa ins Sonnenlicht heraus und das ist beinahe zu schön, um wahr zu sein. Eine Viertelstunde schreien, lachen und reden wir alle durcheinander, so dass kein einziges Wort zu verstehen ist.
Schließlich verschafft sich Max durch das Gewirr aus wetteifernden Stimmen und Gelächter hindurch Gehör. »Was ist passiert?« Er lacht, atemlos. »Wir haben gehört, dass niemand entkommen ist. Wir haben gehört, es sei ein Massaker gewesen.«
Augenblicklich wird Pippa ernst. »Es war auch ein Massaker«, sagt sie. »Wir haben Hunderte verloren. Die Panzer haben das Lager umringt. Die Soldaten setzten Tränengas, Maschinengewehre und Granaten ein. Es war ein Blutbad. Die Schreie …« Sie bricht ab. »Es war entsetzlich.«
»Wie habt ihr es rausgeschafft?«, fragt Raven. Niemand sagt mehr ein Wort. Jetzt kommt es uns furchtbar vor, dass wir eben noch gelacht und uns darüber gefreut haben, dass Pippa in Sicherheit ist.
»Wir hatten kaum Zeit«, erklärt Pippa. »Wir haben versucht, alle zu warnen. Aber ihr wisst ja, es war chaotisch. Kaum jemand hat auf uns gehört.«
Hinter ihr treten Invaliden vorsichtig aus dem Parkhaus heraus in die Sonne – mit großen Augen, schweigsam. Nervös, wie Menschen, die einen Orkan überstanden haben und staunend feststellen, dass die Welt noch existiert. Ich kann nur ahnen, was sie in Waterbury miterlebt haben.
»Wie seid ihr den Panzern entkommen?«, fragt Bee. Es fällt mir immer noch schwer, meine Mutter in ihr zu sehen, wenn sie sich so verhält – sie eine abgehärtete Widerständlerin ist. Im Moment belasse ich ihr gerne ihre Doppelexistenz: Manchmal ist sie meine Mutter und manchmal eine Anführerin und Kämpferin.
»Wir sind nicht geflohen«, sagt Pippa. »Wir hatten keine Chance. Es wimmelte nur so von Truppen. Wir haben uns versteckt.« Ein schmerzlicher Ausdruck durchzuckt ihr Gesicht. Sie öffnet den Mund, als wollte sie noch etwas hinzufügen, dann schließt sie ihn wieder.
»Wo habt ihr euch versteckt?«, hakt Max nach.
Pippa und Beast wechseln einen nicht lesbaren Blick. Einen Moment glaube ich, dass Pippa sich weigern wird zu antworten. Irgendetwas ist im Lager passiert, etwas, das sie uns nicht erzählen will.
Dann räuspert sie sich und wendet ihren Blick wieder Max zu. »Erst im Flussbett, bevor die Schießerei losging«, sagt sie. »Es dauerte nicht lange, bis die Leichen fielen. Dann waren wir unter ihnen geschützt.«
»O Gott.« Hunter presst sich die Faust ins rechte Auge. Er sieht aus, als müsste er sich gleich übergeben. Julian wendet sich von Pippa ab.
»Wir hatten keine Wahl«, sagt Pippa mit scharfer Stimme. »Außerdem waren sie bereits tot. Wenigstens sind sie so nicht umsonst gestorben.«
»Wir sind froh, dass ihr es geschafft habt, Pippa«, sagt Raven sanft und legt Pippa eine Hand auf die Schulter. Pippa dreht sich dankbar zu ihr um, ihre Miene plötzlich erwartungsvoll wie die eines Welpen.
»Ich hatte vor, euch eine Nachricht ins Versteck zu schicken, aber ich nahm an, dass ihr bereits weg wärt«, sagt sie.
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