Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
gewöhnt, sie nicht mehr zu tragen.«
Sie wirft mir einen kurzen Blick zu und bringt ein leichtes Lächeln zustande. »Es gibt Verluste, über die wir nie hinwegkommen.«
Ich erzähle meiner Mutter auch von meinem Leben, vor allem, was passiert ist, seit ich in Portland über die Grenze gekommen bin, und wie ich an Raven, Tack und die Widerstandsbewegung geraten bin. Gelegentlich beschwören wir Erinnerungen an die Zeit davor herauf – an die verlorene Zeit, bevor sie wegging, bevor meine Schwester geheilt wurde, bevor ich zu Tante Carol zog. Aber nicht zu oft.
Wie meine Mutter gesagt hat, gibt es Verluste, über die wir nie hinwegkommen.
Bestimmte Themen bleiben vollkommen außen vor. Sie fragt nicht, wie es überhaupt dazu kam, dass ich die Grenze überquert habe, und ich erzähle es ihr auch nicht von mir aus. Alex’ Nachricht trage ich in einem kleinen Lederbeutel um den Hals – ein Geschenk meiner Mutter, das sie Anfang des Jahres bei einem Händler gekauft hat –, aber es ist ein Andenken an ein vergangenes Leben, wie wenn man das Foto von einem Verstorbenen bei sich trägt.
Meine Mutter weiß natürlich, dass ich die Liebe für mich entdeckt habe. Gelegentlich ertappe ich sie dabei, wie sie mich beobachtet, wenn ich mit Julian zusammen bin. Der Ausdruck in ihrem Gesicht – eine Mischung aus Stolz, Trauer, Neid und Liebe – erinnert mich daran, dass sie nicht nur meine Mutter ist, sondern eine Frau, die schon ihr ganzes Leben lang für etwas kämpft, das sie nie wirklich selbst erfahren hat.
Mein Vater war geheilt. Und man kann nicht lieben, zumindest nicht vollkommen, solange man nicht zurückgeliebt wird.
Das schmerzt mich für sie, ein Gefühl, das ich verabscheue und für das ich mich irgendwie schäme.
Julian und ich haben unseren Rhythmus wiedergefunden. Es ist, als hätten wir die letzten paar Wochen übersprungen, Alex’ langen Schatten übersprungen, und wären jenseits davon sanft gelandet. Wir können gar nicht genug voneinander bekommen. Ich bestaune erneut jeden Teil von ihm: seine Hände, seine leise, sanfte Sprechweise, all seine verschiedenen Arten zu lachen.
Nachts, im Dunkeln, strecken wir uns nacheinander aus. Wir verlieren uns im Rhythmus der Nacht, im Heulen, Schreien und Jaulen der Tiere draußen. Und trotz der Gefahren der Wildnis und der ständigen Bedrohung durch Aufseher und Schmarotzer, fühle ich mich seit einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt, zum ersten Mal frei.
Als ich eines Morgens aus dem Zelt krieche, stelle ich fest, dass Raven verschlafen hat und stattdessen Julian und meine Mutter das Feuer schüren. Sie haben mir den Rücken zugekehrt und lachen über etwas. Dünne Rauchfahnen winden sich in die angenehme Frühlingsluft hinauf. Einen Moment bleibe ich vollkommen ruhig stehen, bin überrascht – wenn ich mich auch nur das kleinste bisschen rühre, einen Schritt vor oder zurück mache, wird sich das Bild im Wind auflösen und die beiden werden zu Staub zerfallen.
Dann dreht sich Julian um und erblickt mich. »Guten Morgen, Schöne«, sagt er. Sein Gesicht ist stellenweise immer noch verletzt und geschwollen, aber seine Augen haben genau die Farbe des Himmels am frühen Morgen. Als er lächelt, halte ich ihn für das Schönste, was ich je gesehen habe.
Meine Mutter schnappt sich einen Eimer und steht auf. »Ich wollte mich gerade waschen gehen.«
»Ich auch«, sage ich.
Als ich in den immer noch eiskalten Fluss wate, bekomme ich Gänsehaut im Wind. Ein Schwarm Schwalben segelt über den Himmel; das Wasser schmeckt leicht nach Splitt; meine Mutter steht summend ein Stück stromabwärts. Das alles hat nichts mit der Art von Glück zu tun, die ich mir vorgestellt hatte. Es ist nicht das, wofür ich mich entschieden hätte.
Aber es ist genug. Es ist mehr als genug.
An der Grenze zu Rhode Island begegnen wir einer anderen Gruppe aus etwa zwei Dutzend Siedlern, die ebenfalls auf dem Weg nach Portland sind. Sie alle, außer zweien, stehen auf der Seite des Widerstands und die beiden, die keinen Wert darauf legen zu kämpfen, wagen es nicht, allein zurückzubleiben. Wir nähern uns der Küste und überall finden sich Überbleibsel des alten Lebens. Wir treffen auf einen riesigen wabenartigen Komplex aus Beton, den Tack als altes Parkhaus identifiziert.
Etwas an dem Gebäude macht mir Angst. Es sieht aus wie ein enormes Insekt aus Stein mit hundert Augen. Die gesamte Gruppe verfällt in Schweigen, als wir in seinem Schatten vorbeigehen. Mir
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