Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Moment drängt sich eine Frau, die mir als Mitarbeiterin der örtlichen Tageszeitung bekannt vorkommt, zu Fred durch.
»Herr Bürgermeister«, sagt sie und bei der Anrede durchfährt es mich vor Aufregung. »Ich versuche schon den ganzen Abend, mit Ihnen zu sprechen. Hätten Sie einen Augenblick …?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, zieht sie ihn von mir weg. Er dreht sich zu mir um und formt lautlos das Wort Entschuldigung . Ich winke ihm kurz zu, um ihm mein Verständnis zu signalisieren.
Jetzt, da das Feuerwerk zu Ende ist, kehren die Leute zurück in den Ballsaal, wo der Empfang weitergeht. Alle lachen und unterhalten sich. Dies ist ein schöner Abend, ein Moment des Feierns und der Hoffnung. Fred hat in seiner Rede versprochen, die Ordnung und Stabilität in unserer Stadt wiederherzustellen und die Sympathisanten und Widerständler aufzuspüren, die sich unter uns eingenistet haben – wie Termiten, hat er gesagt, die langsam die Grundstruktur unserer Gesellschaft und unsere Werte untergraben. Aber das werden wir nicht dulden , hat er gerufen und alle haben applaudiert.
So sieht die Zukunft aus: glückliche Paare, helle Lichter und schöne Musik, geschmackvoll drapierte Stoffe und angenehme Gespräche. Willow Marks und Grace, die verfallenen Häuser in Deering Highlands und die Schuldgefühle, die mich gestern aus dem Haus und auf mein Fahrrad getrieben haben – all das kommt mir jetzt vor wie ein böser Traum.
Ich muss daran denken, wie Willow mich so traurig angesehen hat: Dich haben sie auch gekriegt.
Sie haben mich nicht gekriegt, hätte ich erwidern sollen. Sie haben mich gerettet.
Die letzten dünnen Rauchschwaden haben sich aufgelöst. Die grünen Hügel des Golfplatzes werden von purpurnen Schatten verschluckt.
Einen Moment stehe ich auf der Terrasse und genieße die Ordnung um mich herum: das gestutzte Gras und die sorgfältig geplante Landschaft, das Muster von Tag zu Nacht wieder zu Tag, eine vorhersehbare Zukunft, ein Leben ohne Schmerz.
Als sich die Menge auf der Terrasse lichtet, fange ich den Blick eines Jungen auf, der am gegenüberliegenden Rand steht. Er lächelt mich an. Er kommt mir bekannt vor, obwohl ich ihn erst nicht einordnen kann. Aber als er auf mich zuschlendert, durchzuckt mich die Erkenntnis.
Steve Hilt. Ich kann es kaum glauben.
»Hana Tate«, sagt er. »Ich glaube, ich kann dich noch nicht Hargrove nennen, oder?«
»Steven.« Letzten Sommer habe ich ihn Steve genannt. Das kommt mir jetzt unpassend vor. Er hat sich verändert; deshalb habe ich ihn wohl erst nicht erkannt. Als er sich zu einer Kellnerin hinunterbeugt und sein leeres Weinglas auf einem Tablett abstellt, sehe ich, dass er geheilt ist.
Aber das ist nicht alles. Er hat zugenommen, sein Bauch wölbt sich unter dem Hemd, Unterkiefer und Hals gehen ineinander über. Er hat die Haare glatt über die Stirn gekämmt, genau wie mein Vater.
Ich versuche mich an unsere letzte Begegnung zu erinnern. Es war wohl in der Razzianacht in den Highlands. Ich hatte gehofft, ihn dort zu treffen; das war der Hauptgrund gewesen, warum ich zu der Party gegangen war. Ich erinnere mich, wie ich im halbdunklen Keller stand, während der Fußboden vom Rhythmus der Musik pulsierte und Schweiß und Feuchtigkeit die Wände benetzte; an den Geruch nach Alkohol, Sonnencreme und Körpern auf engstem Raum. Er presste seinen Körper gegen meinen – er war damals so schlank, groß und braun gebrannt – und ich ließ zu, dass seine Hände über meine Taille und unter mein T-Shirt glitten, er beugte sich vor und drückte seine Lippen auf meine, öffnete meinen Mund mit seiner Zunge.
Ich glaubte, ihn zu lieben. Ich glaubte, er würde mich lieben.
Wenig später der erste Schrei.
Schüsse.
Hunde.
»Gut siehst du aus«, sagt Steven. Sogar seine Stimme klingt anders. Ich muss schon wieder an meinen Vater denken, es ist die entspannte, tiefe Stimme eines Erwachsenen.
»Du auch«, lüge ich.
Er legt den Kopf schief und wirft mir einen Blick zu, der sowohl Danke als auch Ich weiß bedeutet. Unbewusst weiche ich ein paar Zentimeter zurück. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn letzten Sommer geküsst habe. Ich kann nicht glauben, dass ich für diesen Jungen alles – Ansteckung, Infektion – riskiert habe.
Aber nein. Damals war er ein anderer Junge.
»Und? Wann findet das freudige Ereignis statt? Nächsten Samstag, oder?« Er steckt die Hände in die Taschen und wippt auf den Fersen.
»Am Freitag drauf.« Ich räuspere mich. »Und
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