Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Fenster aufbrechen, werden wir den Gestank schneller los.«
»Hinterm Haus liegt gespaltenes Feuerholz«, sagt Alex. »Ich kann Feuer machen.«
»Also dann.« Tack sieht Julian nicht mehr an. »Abgemacht. Wir bleiben über Nacht hier.«
Wir stapeln den Schutt hinter dem Haus auf. Ich versuche mir die zerschlagenen Schüsseln und die zersplitterten Stühle nicht allzu genau anzusehen oder darüber nachzudenken, dass ich noch vor einem halben Jahr warm und satt auf diesen Stühlen gesessen habe.
Wir schrubben den Boden mit Essig, den wir im Schrank finden, und Raven sammelt trockenes Gras draußen im Garten und verbrennt es in den Ecken, bis der süßliche, Übelkeit erregende Gestank nach Verwesung endlich verschwunden ist.
Raven schickt mich mit ein paar kleinen Fallen los und Julian erklärt sich bereit mich zu begleiten. Wahrscheinlich sucht er nach einem Vorwand, um aus dem Haus zu kommen. Ich merke, dass er sich immer noch unbehaglich fühlt, selbst nachdem wir fast alle Kampfspuren aus den Zimmern beseitigt haben.
Wir gehen ein Stückchen schweigend nebeneinanderher durch den überwucherten Garten ins dichte Gewirr der Bäume. Der Himmel ist bereits rosa und lila gefleckt und die Schatten malen dicke, kräftige Pinselstriche auf den Boden. Aber die Luft ist noch warm und mehrere Bäume sind von winzigen grünen Blättern gekrönt.
So gefällt mir die Wildnis: dürr, nackt, noch nicht vom Frühling eingekleidet. Aber auch sich reckend, packend und wachsend, voller Verlangen und dem Durst nach Sonne, der jeden Tag etwas mehr gestillt wird. Bald wird die Wildnis explodieren, trunken und lebendig.
Julian hilft mir, die Fallen aufzustellen und sie tief in die weiche Erde zu treten, um sie zu verbergen. Ich mag dieses Gefühl der warmen Erde und Julians Fingerspitzen.
Als wir alle drei Fallen aufgestellt und ihre Position markiert haben, indem wir ein Stück Kordel um die Bäume in der Nähe knoten, sagt Julian: »Ich glaube nicht, dass ich dahin zurückkann. Noch nicht.«
»Okay.« Ich stehe auf und wische mir die Hände an meiner Jeans ab. Ich bin auch noch nicht bereit zurückzugehen. Es ist nicht nur das Haus. Es ist Alex. Es ist auch die Gruppe, die Streitereien und Unstimmigkeiten, die Verbitterung und Abwehrhaltung. Es ist so anders als das, was ich beim alten Stützpunkt erlebt habe, als ich in die Wildnis kam. Damals schienen alle eine große Familie zu sein.
Julian richtet sich auch auf. Er fährt sich mit einer Hand durchs Haar. Unvermittelt sagt er: »Weißt du noch, als wir uns das erste Mal begegnet sind?«
»Als die Schmarotzer …?«, hebe ich an, aber er unterbricht mich.
»Nein, nein.« Er schüttelt den Kopf. »Davor. Bei der VDFA -Versammlung.«
Ich nicke. Es ist immer noch seltsam, mir vorzustellen, dass der Junge, den ich an jenem Tag gesehen habe – das Aushängeschild der Anti-Deliria-Bewegung, die Verkörperung der Korrektheit –, auch nur im Entferntesten etwas mit dem Jungen zu tun hat, der jetzt neben mir hergeht, die Haare in seiner Stirn verworren wie verdrehte Stränge Karamell, das Gesicht vor Kälte gerötet.
Es wundert mich – dass Menschen jeden Tag anders sind. Dass sie nie dieselben sind. Man muss sie immer neu erfinden und sie müssen sich auch selbst neu erfinden.
»Du hast deinen Handschuh vergessen. Und du kamst rein, als ich mir gerade Fotos ansah …«
»Ich weiß«, sage ich. »Überwachungsbilder, oder? Du hast mir gesagt, ihr würdet nach Invalidenlagern suchen.«
»Das war gelogen.« Julian schüttelt den Kopf. »Ich … ich habe mir nur gern diese ganze Weite angesehen, weißt du? Aber ich habe mir nie vorgestellt – selbst wenn ich von der Wildnis und den unbegrenzten Orten geträumt habe – ich hätte nie gedacht, dass es wirklich so sein könnte.«
Ich nehme seine Hand und drücke sie. »Ich wusste, dass du lügst«, sage ich.
Julians Augen sind heute rein blau, eine Sommerfarbe. Manchmal werden sie stürmisch wie das Meer in der Morgendämmerung; dann wieder sind sie so blass wie der morgendliche Himmel. Er fährt mit einem Finger über mein Kinn. »Lena …«
Er sieht mich so aufmerksam an, dass ich nervös werde. »Was ist?«, frage ich und versuche meine Stimme leichthin klingen zu lassen.
»Nichts.« Er greift auch nach meiner anderen Hand. »Es ist nichts. Ich … ich will dir etwas sagen.«
Tu’s nicht , will ich rufen, aber die Worte ersticken in einem Lachanfall, dem hysterischen Gefühl, das ich früher immer vor
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