Requiem für eine Sängerin
spüren konnte, wie ihr Atem ihn an der Wange kitzelte. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Lider waren blütenweiß, von den dunklen Sicheln der Wimpern umrahmt. Ihr Mund stand offen, ein schwarzes Loch in dem flachen Gesicht. Die Wolke vor dem Mond verzog sich, sein Licht machte aus dem warmen, lebenden Fleisch einen Geist. Der Eindruck ließ ihn erschauern.
«Kalt?» Sie sah ihn aus dunklen ausdruckslosen Augen an.
«Ein wenig. Und dir?»
«Ein wenig.» Sie löste sich aus der Umklammerung und streckte sich. An den Hüften waren sie nach wie vor vereint, und sie rieb ihre anzüglich an seinen. Wegen der Schmerzen im Rücken zuckte er zusammen.
«Du hast es gebraucht.»
«Du nicht?» Seine Stimme war heiser, gebrochen.
Die Sphinx sah ihn nur an und lächelte.
Nightingale kehrte zurück, als die Spätnachrichten gerade zu Ende waren, sie klopfte an die Haustür und brachte verführerische Düfte nach Fisch und Pommes mit.
«Abendessen?»
«Mhm, lecker; ich bin völlig ausgehungert.» Octavia sprang auf und schaltete den Fernseher ab. Sie folgte Nightingale in die neonbeleuchtete Küche; das Lachen beider Frauen hallte bis in das Zimmer.
«Möchten Sie auch etwas, Andrew? Es ist genügend da», rief sie über das Klirren von Besteck und die Geräusche des Tischdeckens.
«Nein, danke. Ich muss los.»
«Sind Sie sicher?» Sie kam zu ihm in die Diele.
«Ja. Wir sehen uns morgen.» Er versuchte, den Worten einen normalen Klang zu geben.
Sie schenkte ihm ihr Alltagslächeln, als sie ihn zur Tür brachte. Als er den feuchten, dunklen Weg hinabging, hörte er die beiden in der Küche lachen und fragte sich, ob er Gegenstand ihres Gesprächs war.
46
Am Montag, den sechsten September, war der siebenundfünfzigste Jahrestag der Gründung der Downside School. Sie war in einem Anflug von optimistischer Entschlossenheit von Counsellor De Weir gegründet worden, einem Geschäftsmann der Gegend, der zu alt war, um in den Krieg zu ziehen, aber zu jung, um nicht die Konsequenzen zu fürchten, wenn so viele begabte Heranwachsende der Nation ausgelöscht wurden.
Zu Anfang hatte die Schule eine Lehrerin, eine aus vierzehn Schülern unterschiedlichen Alters bestehende Klasse und hauste in einer umgebauten Scheune. Miss Saunders, die erste Lehrerin, war Anfang dreißig gewesen. Wie viele ihres Alters und ihrer Schicht stellte sie sich tapfer einem Leben als alte Jungfer, nachdem ihr Verlobter 1916 gefallen war. Die Schule wurde zu ihrer Familie, die Schüler zu ihren Kindern, und sie investierte so viel Phantasie und Entschlossenheit in ihre Arbeit, dass sie den größten Teil der bäuerlichen Eltern und Schüler, deren Ausbildung ihr Anliegen war, für sich einnehmen konnte.
Zufällig war Miss Saunders eine begabte Pianistin, deren Kunstfertigkeit in vielen Stunden des Übens seit dem August 1916 ständig gewachsen war. Ebenso zufällig stellte sich heraus, dass zwei ihrer Schüler, die Mason-Zwillinge, absolutes Gehör und wunderbare Tenorstimmen hatten. Daher zogen die weihnachtlichen Schulkonzerte auch Publikum von außerhalb des Dorfes an. Mr. De Weir, selbst kein musikalischer Mensch, nahm die Glückwünsche dennoch gern entgegen, und seine Karriere in der Lokalpolitik erlebte einen steilen Aufschwung. Als er Bürgermeister wurde, gründete er eine musikalische Stiftung an der Schule mit einem Preis, der die künstlerische Entwicklung jeweils eines wahrhaft außergewöhnlichen Schülers fördern sollte. Die Bedeutung der Schule für die lokale musikalische Ausbildung war gesichert.
Die Schule hatte eine lange Tradition, und sie hatte eine Schülerin hervorgebracht, auf die die Verwaltung stolz und neidisch zugleich war. Octavia Anderson war ihr größter Triumph, daher hatten sie beschlossen, es der Welt am Jahrestag zu zeigen und zu protzen. Es war tollkühn, ein paar sagten närrisch, Verdis Requiem aufführen zu wollen. Das Werk war eine Herausforderung für Orchester, Chor und alle vier Solisten – Sopran, Mezzosopran, Tenor und Bass. Octavia Anderson dafür zu interessieren war ein echter Coup gewesen.
Alle Chöre und Orchester hatten unter Leitung des Dirigenten und Rektors, dem die undankbare Aufgabe zufiel, die Stimmen zu koordinieren, für sich geprobt. Die ersten Gesamtproben fanden am Sonntag statt; sie waren kein völliges Desaster. Der Montag war ein Tag der Herausforderungen.
Die Kathedrale war seit der Abendandacht für Touristen und Gläubige geschlossen; über Nacht hatte man die
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