Requiem für eine Sängerin
es, und er hatte an den Augen des Majors gesehen, dass der es auch wusste.
Wenige Minuten später wurde ein für vier Personen gedeckter Servierwagen gebracht. Es standen Rosinenkekse darauf.
Nightingale trank ihre zweite Tasse Tee, als die Tür zum dritten Mal aufging. West kehrte zurück, in Begleitung eines anderen Mannes, der rundlich bis feist war und einen Nadelstreifenanzug mit Weste trug. Er lächelte sie an und entblößte dabei kräftige, gerade, leicht gelbliche Zähne hinter wulstigen Lippen.
«Detective Constable Nightingale, Detective Chief Inspector Fenwick» – er schaute sie nacheinander an – «entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ. Anthony hatte größte Schwierigkeiten, mich zu finden und dann aus einer wichtigen Sitzung herauszuholen. Setzen Sie sich. Tony, lassen Sie bitte eine frische Kanne und Tassen bringen.»
West hätte das Schauspiel familiärer Freundlichkeit beinahe verdorben, aber er dachte gerade noch rechtzeitig daran, nicht zu salutieren, als er sich um hundertachtzig Grad drehte und hinausging.
«Und Sie sind?»
«Ähem, George, Alan George, nennen Sie mich bitte George, Andrew, das tun alle.»
Er machte es sich in dem Sessel gemütlich, wo vorher West gesessen hatte. Frischer Tee wurde gebracht, und der Major kehrte zurück.
«Ah, gut. Bemühen Sie sich nicht, Teuerste, ich werde den Gastgeber spielen.» Nightingale hatte sich nicht gerührt.
Es herrschte Schweigen, während er sich mit den Tassen zu schaffen machte. Niemand rührte die Rosinenkekse an.
«Also. Zum Geschäftlichen. Sie wollen wissen, wo Victor Rowland ist. Nun, es ist peinlich für uns, das zuzugeben, aber wir wissen es offen gestanden nicht.» Fenwick holte tief Luft. George hob beschwichtigend die Hand.
«Ich weiß. Ich weiß, aber das ist keine Hinhaltetaktik. Er ist am vierzehnten Januar aus der Armee ausgeschieden, und wir glauben, dass er nach ein paar Wochen in Australien hierher zurückgekehrt ist.»
«‹Glauben›? Es gibt doch sicher Mittel und Wege, das herauszufinden, sich zu vergewissern?»
«Ja, natürlich. Ich meine, er ist zurückgekehrt, aber wir wissen nicht, wo er sich aufhält.»
«Warum war er in Australien?» Nightingale meldete sich zum ersten Mal zu Wort.
«Ich glaube, ein Verwandter war gestorben. Er hat etwas geerbt und musste die Angelegenheiten da unten regeln.»
«Das müsste dann sein Onkel in Sydney gewesen sein?»
«Ja, ich glaube, das habe ich gehört.»
«Warum ist er aus der Armee ausgeschieden?», fragte Fenwick ohne Umschweife.
«Ich bin nicht sicher. Das kommt vor, wissen Sie, selbst bei Leuten, von denen man es nicht erwartet hätte. Und es gibt meist stichhaltige Gründe dafür.»
«Gehörte er zu den Leuten, von denen man es nicht erwartet hätte?»
«Ich habe ihn nicht gekannt.»
«Und warum wissen Sie jetzt so viel über ihn? Warum wissen Sie, dass er in Australien war und», Fenwick ging wieder zum Schreibtisch und stützte sich darauf, «warum ‹glauben› Sie, dass er zurückgekehrt ist? Ist es üblich, ehemalige Armeeangehörige so genau im Auge zu behalten?»
«Bei manchen ja.»
«Bei welchen?»
«Sonderfälle. Härtefälle, Invalide – Sie wissen schon, wo wir sichergehen wollen, dass sie die optimalen Startbedingungen haben.»
«Rührend. Und da liest man so kritische Artikel in der Presse. Denen ist offensichtlich gar nicht bekannt, wie fürsorglich Sie sind. Aber Rowland war – ist kein Härtefall. Sie sagten selbst, dass er eine Erbschaft gemacht hat …»
George wählte seine Worte mit Bedacht. «Er ist wenige Monate vor seinem Ausscheiden krank geworden und hat sich nie wieder ganz erholt.»
«Wie krank? Was für eine Krankheit?»
«Ich glaube nicht, dass das für Ihren Fall relevant ist.»
«Alles, was Rowland betrifft, ist relevant. Sie sind in den wenigen Minuten zwischen Ihren Sitzungen offenbar bestens informiert worden.» Fenwick kam ein Gedanke. «Es sei denn, Sie hätten bereits über den Fall Bescheid gewusst. Irgendwo wird es eine Akte geben. Schlagen Sie nach, was Sie nicht wissen.»
«Nicht einmal die Polizei hat automatisch Zugang zu ärztlichen Unterlagen, Chief Inspector, das wissen Sie. Manche Dinge sind Gott sei Dank privat.»
«Wurde die Krankheit von arbeitsbedingtem Stress ausgelöst?», fragte Nightingale, die Notizen machte.
«Das glaube ich nicht.»
Sie formulierte es präziser. «Litt er an einer Form geistiger Instabilität?»
«Was für eine seltsame Frage, Constable. Warum wollen Sie das
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