Requiem für eine Sängerin
berühmten Tochter, spendierten ihm Drinks, sagten, er müsse stolz auf mich sein. Also war er es auch; immer wenn andere Leute große Stücke auf mich hielten, war er froh, dass er mich hatte. Bedauerlicherweise. Nach sechs Monaten war der Ruhm Akzeptanz und einer Erwartungshaltung gewichen. Mir war das egal. Ich hatte mir Fristen gesetzt und war entschlossen, es allen zu zeigen.»
«Und Carol, was hat sie von alledem gehalten?»
«Die kannte ich da noch gar nicht. Carol war schon an der Downside. Als ich sie kennen lernte, freute sie sich natürlich für mich. Wir wurden gute Freundinnen.»
«Sie haben vorhin angedeutet, dass sie weitaus mehr als eine Freundin gewesen ist. Hat sie Julias Platz eingenommen? Ich kann mir schwer vorstellen, dass Sie die ganzen neu entdeckten Freuden einfach aufgegeben haben.»
Anderson wich seinem Blick aus.
«Kommen Sie, Octavia, es bringt nichts, jetzt aufzuhören!»
«Um Himmels willen, woher plötzlich dieses kindische Interesse an meinem Liebesleben? Lassen Sie mich in Ruhe!»
«Raus mit der Sprache, waren Sie Carol Trumans Geliebte oder nicht?»
«Ja, ja, ja, schon gut! Ich war ihre Geliebte. Ein phantastisches Jahr lang.»
Cooper, der mit einem Teetablett in der Tür auftauchte, wich unbemerkt wieder zurück in den Flur.
«Niemand wusste es. Genau genommen hat es nicht einmal jemand vermutet. Ich war ihre Erste. Ich brachte ihr alles bei, was ich von Julia gelernt hatte. Am Anfang war sie sehr nervös; sie hielt es für eine Sünde. Carol war eine unreife Vierzehnjährige und wuchs allein auf. Sie hatte nie einen Freund gehabt, keine Brüder, nur ihren Cousin, der mit ihr schäkerte, aber der war natürlich viel älter als sie. Ich überzeugte sie davon, dass es ganz normal war und zum Erwachsenwerden dazugehörte.»
«Warum? Warum haben Sie …?» Fenwick machte eine Pause und versuchte, das richtige Wort zu finden; «verführt» erschien ihm zu frivol. «Wie sind Sie ein Liebespaar geworden? Ist das bei Mädchen dieses Alters üblich? Ich verstehe es nicht.»
«Nein, das können Sie nicht verstehen, Andrew, und ich bin nicht sicher, ob ich es erklären kann. Ich bin keine Expertin, wissen Sie. Julia und Carol waren die Einzigen. Aber warum ich mich für Carol entschied, das ist leicht zu beantworten. Sie war sehr anziehend. Sie war eine Schönheit – schlank, klein für ihr Alter, noch im Wachstum; lange Beine, dichtes blondes Haar. Und ihre Augen – in Büchern nennen sie so etwas mandelförmig, aber das reicht nicht – es waren die samtenen Augen eines Tiers, die in ihrem Gesicht riesig wirkten und immer sanft. Und sie kam aus einer ganz normalen Familie; für ihre Eltern muss sie ein Juwel gewesen sein. Wenn ich sie besuchte, habe ich gesehen, wie sie ihre Tochter fast ehrfürchtig betrachteten, als könnten sie nicht glauben, dass sie etwas so Schönes hervorgebracht hatten. Aber sie war nicht eingebildet. Sie war schüchtern, natürlich und bei allen neuen Dingen ziemlich unsicher. Ich dachte immer, dass sie einsam ist in der Schule – dass sie viele Freundinnen hat, aber keine wirklich enge. Als ich sie besser kennen lernte, stellte ich allerdings fest, dass ich mich irrte. Sie war nicht einsam, sie mochte nur alle gleich gern und erwartete, dass man sie ebenso liebte. Es war eine Herausforderung, sie dazu zu bringen, dass sie mich mehr mochte, aber mit meiner Musik gelang es mir. Mein Gesang verzauberte sie. Als ich an die Schule kam, machten wir Singspiele – sie stimmte ein, sie hatte eine angenehme Stimme, hell und klar. Später verschwanden wir dann im Musiktrakt, sangen und spielten zusammen Klavier. Sie war eine gute Pianistin. Ihre Eltern ermutigten sie in jeder Hinsicht; sie hatten kaum Geld, aber Carol hatte Klavierunterricht, seit sie vier war.»
«Wollte sie auch Musikerin werden?»
«Nein! Natürlich nicht. Sie hatte Verstand – sie war einer der seltenen Menschen, die in fast allem gut sind. Nein, sie wollte versuchen, Ärztin zu werden – wenn ihr Notendurchschnitt es erlaubte.»
«Und wann wurden Sie ein Liebespaar?»
«Im Winter, kurz vor Weihnachten, in der zehnten Klasse. Es ergab sich ganz natürlich.»
«Und zum Zeitpunkt ihres Todes waren sie immer noch ein Paar?»
«Ja, auch wenn wir uns nicht mehr so oft sahen. Wir freuten uns auf die Sommerferien – es sollte unsere letzte gemeinsame Zeit sein, bevor ich zur Akademie wechselte.»
«Was passierte an Ihrem letzten gemeinsamen Tag?»
«Das habe ich Ihnen nun schon
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