Requiem für eine Sängerin
sein. Als er an ihre betroffenen Gesichter dachte an dem Tag, als sie die Nachricht von ihrem Tod in dieses Haus brachten, als ihm klar wurde, wie scheinheilig mindestens einer dieser mitleidigen, tränenfeuchten Blicke gewesen war, sprang er, den Tisch umstoßend, mit einem unbeherrschten Schrei auf und suchte blind nach etwas, das er verletzen oder zerstören konnte.
Er stolperte zur Spüle, schlug mit der bloßen Faust das Fenster darüber ein und verspürte eine obszöne Freude, als er das Blut aus den Schnitten auf seinem Handrücken quellen sah. Erst als es auf das Foto zu tropfen drohte, zog er den Arm zurück und verband die Hand mit einem alten Küchentuch, das an der Tür gehangen hatte. Die blinde Wut ließ langsam nach, und er blieb wie immer schwach und leer, aber für eine Weile beschwichtigt zurück. Er hob das Foto auf, strich zärtlich darüber und ging zurück zu dem Stuhl. Ein Gedanke ging ihm wieder und wieder durch den Kopf – es war nicht meine Schuld. Und dieser Gedanke erfüllte ihn mit eisklarer Zielstrebigkeit.
Jemand hatte gewollt, dass sie starb, hatte sie in den Tod gestürzt. Wenn er seiner Sache sicher war, würde er das Wenige, das er für sie und ihr Andenken noch tun konnte, tun. Einst wäre er für sie gestorben. Nun genoss er das Wissen, dass er wenigstens etwas für sie vollbringen konnte: sie rächen, für sie töten – einmal, zweimal, dreimal –, sooft es nötig war, damit sie endlich in Frieden ruhen konnte.
Noch einmal brach die Sonne durch die Wolken, ehe sie hinter den fernen Hügeln unterging. Ihr Licht fiel sanft auf das lächelnde Gesicht eines Mannes, der sein Schicksal kannte und seinen Frieden gefunden hatte.
ERSTER TEIL
Dies irae
Dies irae, dies illa
Tag des Zornes , Tag der Zähren
1
«Gott sei Dank!»
Deborah Fearnside machte die Tür zu, lehnte sich erleichtert dagegen und schloss die perfekt geschminkten Lider über ihren blauen Augen. Es war Montag, und die Kinder waren endlich aus dem Haus; die stets zuvorkommende Mavis Dean hatte sie mitgenommen. Nun musste sie sich nur noch selbst fertig machen.
Sie schlug die Augen auf und sah nervös auf die Uhr. Jetzt, so kurz davor, hatte sie Schmetterlinge im Bauch. Auf gar keinen Fall wollte sie in letzter Minute alles vermasseln. Im Grunde war sie bereit, und das schon seit Viertel vor sieben. Sie musste nur noch ihren Mantel und die Schlüssel holen, abschließen und gehen. Ihre angeborene gute Laune kehrte zurück, während sie durch das Haus eilte.
Deborah Fearnside hatte Montage schon immer gemocht. Sie wusste, das unterschied sie von nahezu allen anderen Menschen, aber ihr gefiel der Gedanke, dass sie wenigstens in einer Hinsicht anders war. Montags ging Derek wieder ins Büro, pünktlich um 6.55 Uhr rollte er mit seinem neuen silbermetallic lackierten Audi aus der Einfahrt, damit er den Zug um 7.12 Uhr nach Victoria Station erwischte. Und die Kinder gingen Viertel vor acht zum Kindergarten. Noreen, die Putzfrau, kam um 8.15 Uhr, um das Frühstücksgeschirr abzuräumen und die Trümmer des Wochenendes zu beseitigen.
Dieser Frühlingsmorgen aber war etwas Besonderes. Deborah würde nach London fahren und Verträge unterzeichnen, die ihr – was bringen würden? Aufregung, Herausforderung, Ruhm? Einerlei, auf jeden Fall etwas Neues. Sie sehnte sich verzweifelt nach etwas Neuem.
Vier Wochen zuvor hatten sie und ein paar Freundinnen auf eine viertelseitige Anzeige in der Lokalzeitung geantwortet, in der junge Mütter mit Interesse an einem Nebenjob als reife Models für einen neuen Katalog gesucht wurden. Der Anzeige zufolge richtete sich der Katalog an Familien, die bevorzugt «bequem und einfach hochwertige Kleider für ihren erfüllten, aktiven Lebensstil» kauften. Darüber hinaus hätten Analysen gezeigt, dass «der Rücklauf unserer Zielgruppe deutlich besser ist (in manchen Fällen bis zu dreimal so hoch), wenn die Kleidungsstücke von echten Müttern und ihren Kindern vorgeführt werden».
Die Ansprüche an die Models waren hoch, der Auswahlprozess in vier Stufen unterteilt. Zudem gab es enge Grenzen, was die Größe und das Gewicht der Mütter sowie das Alter der Kinder betraf. Das Honorar für erfolgreiche Models war laut Anzeige «ausgezeichnet».
Zunächst waren Deborah und ihre Freundinnen skeptisch gewesen. Mindestens sechs von ihnen entsprachen den Größen- und Gewichtsvorgaben und hatten Kinder in der richtigen Altersgruppe. Drei unter ihnen waren Deborahs Auffassung nach
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