Requiem für eine Sängerin
entscheidenden Grund. Er verlor den Kontakt. Es war Monate her, dass er die Einheit verlassen hatte. Erst hatte er nach Australien fliegen und Räumung und Verkauf des Anwesens organisieren müssen, dann war er wohlhabender, aber mit wenigen materiellen Habseligkeiten nach England zurückgekehrt. In dieser Zeit hatte der Drill nachgelassen. Ein paar wichtige Gewohnheiten hielten sich, und seine Instinkte waren nach wie vor messerscharf, aber seine Reflexe hatten sich um einen Sekundenbruchteil verlangsamt, sein Urteilsvermögen ließ nach, Unsicherheit schlich sich ein.
Im Idealfall sollte er sich strenge Selbstdisziplin auferlegen und durchhalten, aber dazu fehlte die Zeit. In dem Brief aus Johnstones Haus hatte er die Bestätigung gefunden, dass ihm nur drei Monate blieben, um seine Arbeit zu vollenden – sonst entging ihm die Möglichkeit, den allerwichtigsten Mord zu begehen.
Er blätterte in dem Tagebuch über fünf Jahre. Die Seiten waren wieder ordentlich sortiert, nur eine fehlte. Er war sicher gewesen, dass er in ihrem Haus die Bestätigung finden würde, und er hatte sich nicht geirrt. Aus dem seitenlangen pubertären Geschwafel waren mit einem Mal gequälte, schuldbewusste Ergüsse geworden, die sich über Monate erstreckten. Und in Johnstones kläglichen Selbstvorwürfen fand er alle Beweise, die er brauchte, um sein Urteil und die Strafen zu rechtfertigen, die er verhängt hatte. Nun wusste er die Namen sicher: Zwei waren erledigt, zwei weitere blieben.
19
Fenwick kam rechtzeitig zu seiner Verabredung mit Octavia Anderson; der Zug war zur Abwechslung einmal pünktlich in die Victoria Station eingefahren. Sie besaß ein kleines Haus in einer Nebenstraße der Ebury Street, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Es war weiß gestrichen, mit schwarzen Geländern und farblich abgesetzten Fensterrahmen, wie alle anderen Häuser der Anlage auch.
Er musste einen Moment auf den edwardianischen Fliesen am oberen Ende der weiß gestrichenen Treppe warten, bis ein Hausmädchen außer Atem die Tür aufmachte.
«Entschuldigen Sie!» Sie verbeugte sich. Sie hatte eine pfirsichfarbene Haut und dunkle Mandelaugen. «Madame ist gleich so weit. Bitte kommen Sie herein.»
Er wurde in ein kleines, elegantes Wohnzimmer geführt, nicht in den großen Salon, den er nach dem Äußeren des Hauses erwartet hatte.
«Kaffee, Tee, etwas Kaltes?»
«Kaffee, bitte, schwarz, mit Zucker.»
Das Mädchen verbeugte sich erneut und entfernte sich.
Es roch nach Jasmin, und Fenwicks neugieriger Blick fiel auf eine Topfpflanze, die im Sonnenlicht auf einem Intarsientisch vor dem Fenster stand. Der Raum lag nach vorn, zur Straße hin. Die Wände waren in einem sanften Korallenrot gestrichen und mit Grafiken, Drucken und Bildern geschmückt – keines größer als sechzig auf neunzig Zentimeter, aber so angeordnet, dass sie den Eindruck von drei riesigen abstrakten Leinwänden erzeugten. Fenwick fand die Wirkung verwirrend und trat näher, um sich auf die einzelnen Bilder konzentrieren zu können.
Er folgte gerade den Kurven eines minimalistisch gezeichneten Körpers und versuchte zu ergründen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, als er jemanden hinter sich spürte. Einen Moment wartete er, bevor er sich umdrehte, wohl wissend, dass sie ihn beobachtete; und er hätte gern gewusst, warum sie das tat. Er spürte ihren Blick nicht nur im Nacken, sondern auf den Schultern und die gesamte Wirbelsäule hinunter. Und er roch ihr Parfüm, einen Blumenduft, schwerer als das Jasminaroma im Zimmer, aber in subtilen Akzenten damit harmonierend.
Schließlich drehte er sich um. Sie war atemberaubend; eins siebzig bis eins fünfundsiebzig, schlank, das lange Haar ebenmäßig nach hinten gekämmt, sodass es ein Gesicht freigab, das im klassischen Sinne niemals schön sein konnte, aber durch seine Intensität faszinierte. Sie besaß eine außergewöhnliche Präsenz, wie seine Mutter gesagt hätte. Und sie war es gewöhnt, bewundert zu werden. Es war offensichtlich, dass für sie jede Geste, jeder Tag eine Darbietung war, in der sie zur Kenntnis genommen wurde. Vollkommen entspannt stand sie da – eine Hand anmutig auf der Stuhllehne, in Jeans gekleidet, ein langes Bein ein wenig ausgestellt – und betrachtete ihn interessiert und leicht amüsiert. Sie stellte sich nicht vor.
«Ist das eine Frau?»
«Ist das wichtig?»
«Für mich schon. Ich weiß gern, womit ich es zu tun habe.»
«Es heißt Torso II . Keine Hinweise.» Sie lächelte
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