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Requiem: Roman (German Edition)

Requiem: Roman (German Edition)

Titel: Requiem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eoin McNamee
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Mose, und er las von Jesaja. Er las aus den Büchern des gerechten Gottes. Er versuchte, das Göttliche in den Raum zu bringen, sie zu bergen in dessen gefühlvoller, vergeltender Gegenwart. Aus der Diele drang Wehklagen.
    Als er seine Aufgabe zu Ende gebracht hatte, ging er wortlos aus dem Zimmer. Pearls Mutter erhob sich; sie verließ das Zimmer, die Hand vor dem Mund, wobei sie den Raum so durchquerte, als müsse sie einem fallenden Gegenstand aus dem Weg gehen.
    Sie folgten dem Pfarrer nach draußen. Über die Bahngleise wehten Graupelschauer. Der Pfarrer ging auf einen dunklen Ford Zephir zu, der am Straßenrand geparkt war. Sein Ornat wehte um ihn herum. Er blieb vor dem Wagen stehen, ohne die Tür zu öffnen. Im Graupelgestöber, das von der Böschung her über seinen Kopf hinwegwirbelte, schien er eine Quelle für Träumereien zu sehen.
    »Ich hoffe nur, er fängt nicht an, für uns aus der Bibel zu zitieren«, flüsterte Speers.
    »Entschuldigen Sie, Hochwürden«, sagte McCrink.
    Der Mann drehte sich nach ihm um. Seine Schultern und seine Haare waren mit Graupel bedeckt. Für einen Moment sah er aus, als trüge er zum Zeichen der Totenehrung einen Hermelinkragen.
    »Meine Herren«, sagte der Geistliche.
    Er blickte von einem zum anderen, als sei er mit der Einschätzung dieser Begegnung bereits fertig und habe sie vorsorglich in seiner frostigen Seele abgelegt.
    »Eine schlimme Sache, Hochwürden«, sagte McCrink und wechselte in umgangssprachlichen Tonfall, »der Verlust einer Tochter ist schrecklich.«
    »Sie ist an den Ort gegangen, der für sie vorbereitet war«, sagte der Priester und stieg in den Wagen, »sobald die Leiche der Familie überbracht ist, halte ich den Trauergottesdienst. Ich erfülle der Toten gegenüber meine Pflicht. Ich gehe davon aus, dass Sie das auch tun.«
    »Wir tun unser Bestes«, sagte Speers.
    Sie sahen zu, wie der Wagen wegfuhr.
    »Er hat gesagt, sie ist an den Ort gegangen, der für sie vorbereitet war«, sagte Speers, »aber er hat nicht gesagt, welcher Ort das ist.«
    Ronnie Whitcroft stand seit der Mordnacht unter Beruhigungsmitteln. Es wurde Mittwoch, bis man sie für stabil genug hielt, um sie zu vernehmen. Ein uniformierter Wachtmeister brachte sie bis zur Tür des Vernehmungszimmers. Johnston deutete auf den leeren Stuhl. Sie setzte sich hin. Sie sah aus, als hätte sie nicht geschlafen. Ihr Haar hatte die Form eines Bienenkorbes und war dabei, sich aufzulösen. Unter dem Saum ihres Kleides war ihr Schlüpfer zu sehen. Ihre Augen waren gerötet. Johnston hielt sich hinter ihrem Rücken die Nase zu und drehte die Augen zur Zimmerdecke. Ronnie wusste genau, was ihnen durch den Kopf ging. Wir wissen, aus welchem Milieu du stammst, dachten sie. Billiger Geruch, zweifelhafte Lebensführung, dachten sie.
    »Ronnie Whitcroft, geboren am 15. April 1942«, las McCrink vor, »Freundin der Verstorbenen. Sie haben Miss Gamble zum Tanz in der Henry Thompson Memorial Orange Hall begleitet.«
    Ronnie sah sich selbst in der Zukunft vor sich, sah, wie sie in den Jahren, die folgten, am Tatort fotografiert werden würde und zum Jahrestag des Todes ihrer Freundin tränenreiche Interviews geben würde, älter und weiser.
    Speers hielt eine Fotografie von Ronnie und Pearl in die Höhe.
    »Das hat man in ihrer Handtasche gefunden«, sagte er.
    Ronnie erinnerte sich daran, wie sie die Bilder in einem Fotoautomaten auf dem Rummelplatz in Warrenpoint gemacht hatten. Auf dem einen Bild starrt Ronnie düster und mit unbewegten Augen in die Kamera. »Mann oh Mann«, hatte sie damals gesagt, »wir sehen ja aus wie Leichen.«
    »Sag nicht solche Sachen«, hatte Pearl gemeint und die Oberfläche des Fotostreifens aus Schellack mit den Fingerspitzen berührt. Auf den vier Bildern hatten die Mädchen die Köpfe zusammengesteckt, Ronnie schnitt Grimassen, beide lachten. Ronnie hatte ihren Pullover über die Schulter gezogen und Pearl hatte sie mit gespieltem Entsetzen angesehen und sie im Fotoautomaten an der Küste vielsagend in die Seite geknufft.
    »Haben Sie McGladdery gesehen, als Sie in der Halle ankamen?«
    »Nein. Er kam später rein. Alle wollten mit ihm tanzen«, sagte Ronnie zu McCrink, »er kann tanzen wie die Typen in Filmen. Sogar diese ganze versnobte Truppe vom Tennisclub wollte mit ihm tanzen. Aber das war auch alles, was die mit ihm machten. Tanzen.«
    »Und warum?«
    »Weil er ihnen nicht gut genug war. Das konnte man schon daran sehen, wie sie mit ihm auf die Tanzfläche kamen. Die

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