Requiem: Roman (German Edition)
nachzuschlagen, die Worte mit dem Zeigefinger markierend. Vierge hieß Jungfrau. Froide frigide. Ein Wort, das sie immer wieder zu hören bekam. Ronnie behauptete, dass es die Jungs nur zu ihr sagten, weil sie Angst vor ihr hätten. Pearl hatte den Hang, sich in sich selbst zurückzuziehen. Sie strahlte eine Ruhe aus, die ihre zunehmend spürbare Fremdartigkeit zu unterstreichen schien. Ronnie nannte es ihr chinesisches Aussehen. Es war gebieterisch, beinahe hochmütig. Schau bloß nicht an deinem großen langen Schnabel entlang auf mich herab, sagte Ronnie gelegentlich, und wenn Pearl dann anfing zu lachen, verschwand der Ausdruck.
In der Schule brachte Ronnie ihren langen plissierten Rock zu Pearl, damit sie ihn für sie hochsteckte. Ronnie achtete darauf, ihren Rock kürzer zu tragen als alle anderen Mädchen an der Schule. Die anderen Mädchen machten spitze Bemerkungen in den Gängen, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie hatte eine ganz besondere Art, durch die Gänge zu gehen. Stolzieren, nannte sie es. Ich werd mal eben zur Garderobe runterstolzieren. Machte jemand Bemerkungen über Pearl, stand Ronnie für sie ein.
»Mach dir nichts aus den unverschämten Schlampen. Beachte sie einfach gar nicht«, sagte Ronnie.
Pearl ging mit Davy Higgins vom Stadtteil Meadow aus; er führte sie die Shannon Avenue hoch.
»Pearl macht einen an«, sagte er, »und kann nicht von dir lassen und will dann plötzlich nichts mehr wissen. Setzt sich mittendrin auf und sagt, sie geht jetzt nach Hause.«
Musicals hatten Tradition in der Stadt. Pearl wollte mitmachen und bat Ronnie, sie zu begleiten.
»Ich wette, dort hat es haufenweise Talente«, sagte Pearl.
»Nichts als Homos, wie ich das sehe«, sagte Ronnie.
Trotzdem willigte sie ein, sie zu den Proben der Schauspielgruppe Newpoint zu begleiten.
Pearl gefiel das Town Hall Theatre. Ein verschnörkelter Bau aus roten Backsteinen, der sich in drei Bögen über den Fluss spannte. Man bekam einen Eindruck davon, wie die Gesellschaft der Provinz funktionierte, sah die Wohlhabenden der Stadt, die sich mitten im Winter versammelten, lokale Größen in verschnörkelten Logen, plump und bestechlich, Fabrikbesitzer und Schiffsmakler. Männer mittleren Alters, die einen von oben bis unten musterten, die Vorstellung provinzieller Maskenbälle mit Leuten aus dem Umland, die die Ahnung davon mit sich brachten, dass irgendwo da draußen, knapp außer Sichtweite, ein Leben gelebt wurde, wie man es sich nicht vorstellen konnte. In den Blicken, die einem durch das Theater folgten, lag sexuelle Tücke. Und auf der Bühne Showmelodien und komische Opern, Stücke, die unter den flinkzüngigen Versen eine traurige und unheilvolle Botschaft transportierten. Etwas, das im Schweigen hinter der Bühne im Anzug war, in den staubigen Lagerräumen und Probelokalen.
Pearl hatte vor, im Chor mitzumachen, fand aber heraus, dass ihr das nicht zusagte. Mrs Hollywood, die Leiterin der Theatergruppe, verstand sie.
»Ronnie ist diejenige, die aus sich herausgeht«, sagte Pearl.
»Aus sich herausgehen ist auch ein Wort dafür«, sagte Mrs Hollywood, »mit deinem Fachwissen kannst du mir beim Schminken helfen. Wir sind die Girls hinter der Bühne.«
Mrs Hollywood stellte es dar wie einen vergnügten Dienst während des Krieges. Sie hatte zu viel Make-up aufgetragen, Klümpchen davon klebten in ihren Haarwurzeln. Sie roch nach Veilchen.
Wenn die Darsteller die Nerven verloren oder kurz davor waren, in Tränen auszubrechen, zwinkerte sie Pearl zu. Sie brachte Pearl die Traditionen des Theaters bei, weihte sie ein in dessen Aberglauben. Auf Holz klopfen. Auf keinen Fall Macbeth erwähnen. Mrs Hollywood bezeichnete Pearl als ihre ›rechte Hand‹, und Pearl war zufrieden damit, Teil des Teams hinter der Bühne zu sein. Ronnie fing voller Enthusiasmus an, aber nach ein paar Wochen tauchte sie nicht mehr auf.
Pearl erzählte Ronnie, dass sie eines Tages weit, weit weg gehen wolle. Sie erzählte ihr, dass sie nachts allein zur Bahnlinie hinaufgehe. Sie blicke den Zügen nach, die auf dem Viadukt vorbeifahren. Sie frage sich, wer die Fahrgäste seien. Ihre Anwesenheit im Zug scheine sie in eine andere Form der Existenz zu tragen. Sie hätten andere Sorgen. Die beleuchteten Waggons auf ihrer romantischen Fahrt durch die Nacht.
*
Als Pearl von der Schule abging, fand sie einen Job in der Kosmetikabteilung von Foster Newell’s Warenhaus an der Hill Street. Die Zeit der Kürzungen und Rationierungen ging
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