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Requiem: Roman (German Edition)

Requiem: Roman (German Edition)

Titel: Requiem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eoin McNamee
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Musikclubs der Stadt anhielten, vor dem Boom Boom Room, dem Maritime Hotel, dem Orchid Blue.
    »Du wirst all die Orte besuchen, Pearl«, sagte Ronnie dann, »früher oder später.«
    Ronnies Mutter kaufte das True Crime Magazin und Ronnie brachte es mit in die Schule, um es Pearl zu zeigen. Darin wurde über grässliche Taten berichtet. Betrüger, die sich bis ins Herz einer Familie vorgearbeitet hatten, um ihre monströsen Triebe zu befriedigen. Unterschiedliche nachindustrielle Stätten wurden heraufbeschworen. Haltebuchten. Raststätten an Autobahnen. Übeltäter schienen in Wäldern und Mooren zu lauern. Es war von Zerstückelung die Rede, Verstümmelung. Es gab Geschichten hartnäckiger Polizeiarbeit, glücklicher Durchbrüche.
    Ronnie fand, Pearl sei eine Einzelgängerin. Zum Beispiel fuhr Pearl im Winter mit dem Bus zur Landzunge hinaus. Wie Robert fühlte sie sich von Seebädern angezogen. Wie viele andere aus Newry hatte sie dort schwimmen gelernt. Über den Winter waren die Bäder geschlossen, und der Wind wehte Wellen über die Mauern. An den Geländern hingen Girlanden von Seegras, auf den gesprungenen Fliesen sammelte sich Meerwasser. Die Bassins waren mit hereingespültem Gezeitenwasser gefüllt. Vor der Tiefe hatte sie immer Angst gehabt.
    Pearl liebte es, über Brigitte Bardot zu lesen, und wenn sie in Warrenpoint am Wasser entlangging, sah sie sich manchmal selbst in Südfrankreich. Monaco und Nizza. Die Promenade des Anglais. Sie stellte sich dabei immer vor, dass Winter war, die Städte kaum bevölkert und die Touristen wieder zu Hause bis zum folgenden Jahr. Aufeinandergestapelte Stühle vor den Lokalen auf der Promenade. Sie stellte sich vor, an einer abgelegenen Hafenmauer zu stehen und dem kalten Mistral zuzuhören, der Sand über die Badestrände, die Mole und die leeren Lidos trug.
    An den Wochenenden reihte sich auf dem Platz vor den Spielhallen in Warrenpoint Auto an Auto. Hillmans, Sunbeams, Cortinas. Männer kämmten sich vor Seitenspiegeln. Mädchen aus Newry liefen vor ihnen auf und ab. Pearl gefiel es, sie aus der Entfernung zu beobachten. Zierleisten aus Chrom schimmerten, ein tiefes Glänzen in den aufgewühlten Nächten. Männer übernahmen den Haarschnitt der GI’s. Gingen am Samstagmorgen zum Friseur, um sich Tollen verpassen zu lassen; sie hofften, mit dem Haarschnitt und den richtigen Hosen käme auch die Großspurigkeit.
    Pearl nahm jeweils den letzten Zug von Warrenpoint nach Newry und ging über den Friedhof in der Kilmorey Street nach Hause. Auf den Gräbern standen Konservengläser mit verwelkten Blumen. Vom alten Teil des Friedhofs hielt sie sich fern. Dort spürte man die Aura strenger Calvinisten, ihre kalten Vorväter. Vor den Kindergräbern hielt sie kurz inne. Daran zu denken, dass sie allein in der Finsternis lagen, trieb ihr Tränen in die Augen; manchmal ließen ihre Mütter Spielsachen oder bunte Kleidungsstücke auf den Gräbern zurück. Sie sah kleine weiße Särge vor sich, Spielzeug darauf. Stellte sich ihre eigene melancholische Beerdigung vor und wer da sein und wer eine Träne vergießen würde, eine Träne, von niemandem bemerkt, außer von einem. Einem heimlichen Liebhaber, für immer und ewig. Pearl gefiel es, sich stürmischen Gefühlsregungen hinzugeben. Manchmal las sie Ronnie Geschichten aus Magazinen vor, die vom Triumph junger Liebe handelten, die allem trotzte.
    Mit fünfzehn besuchte Pearl das Newry Technical College, um Buchhaltung zu lernen. Nach ihrem Tod sagte Ronnie aus, es habe eine Seite an ihr gegeben, die sie nicht gekannt habe. In den Pausen fing Pearl an, sich zu den Jungs zu gesellen, die hinter dem Chemiegebäude rauchten. Sie standen vor der Giebelwand unter der Entlüftung der Chemielabore. An windstillen Tagen hingen schwefelhaltige Wolken in der Luft, und wenn sie in die Klassen zurückkehrten, rochen sie nach den Dampfschwaden. Pearl rauchte ihre Zigaretten bis zum Wappen des Herstellers herunter. An Winterabenden pafften sie nach der Schule in einem verlassenen Haus an der Straße, während sie auf den Bus warteten und der Abend von der Nacht abgelöst wurde, die Raum bot für Kleinstadtschauder. Pearls Stimme nahm einen rauchigen Ton an. Ronnie gegenüber gab sie zu, dass sie nachts vor dem Spiegel im Bad übte, dass sie ihre Lippen formte, um diesen modischen Tonfall hinzubekommen.
    Alleine in der Bibliothek am Tech fuhr Pearl damit fort, das Oxford-Französisch-Wörterbuch aus dem Regal zu holen und französische Ausdrücke

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