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Requiem

Requiem

Titel: Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kruse
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der Recherche über das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Er musste unbedingt mehr darüber erfahren, wozu das Areal, besonders der Luitpoldhain, eigentlich genau gedient hatte. Für Beaufort lag es auf der Hand: Dieser ungewöhnliche Fundort der Leiche führte auch zum Täter. Anders als die meisten Menschen in so einem Fall setzte er sich nicht gleich an seinen Computer, um die Internetsuchmaschine Google zu befragen, sondern zog als erstes die eigene Bibliothek zu Rate. Er besaß eine umfangreiche Abteilung mit Büchern zur deutschen Geschichte, und auch bei den Frankonika wurde er fündig. Schon bald saß er versunken auf der obersten Stufe seiner Bibliotheksleiter aus dunklem Eichenholz – es war eine Nachbildung aus der Vatikanischen Bibliothek in Rom – und las.
    Beaufort erfuhr, dass die Nazis schon vor ihrer Machtergreifung, in den Jahren 1927 und 1929, zwei kleinere Parteitage in Nürnberg durchgeführt hatten. Die Auftritte in der damals mehrheitlich roten Arbeiterstadt wurden durch eine stark rechts orientierte Polizei, die die junge Republik ablehnte, begünstigt. Trotzdem konnten sie blutige Ausschreitungen im Luitpoldhain zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten auf der einen Seite und Nationalsozialisten auf der anderen nicht verhindern. Beaufort las auch mit Staunen, dass die martialisch aussehende Ehrenhalle gar kein Bau der Nazis war, sondern ein städtisches Gebäude aus der Zeit der Weimarer Republik. Darin wurde ab 1930 der etwa zehntausend gefallenen Nürnberger des Ersten Weltkrieges gedacht. Der monumentale Stil des Gebäudes gefiel Hitler so sehr, dass er den ersten Parteitag als Reichskanzler wieder in Nürnberg stattfinden ließ. Genau dort verkündete er am 31. August 1933 dann, dass in Zukunft alle Reichsparteitage in der Frankenmetropole stattfinden würden. Dazu ließ der Führer den lauschigen Park zu einem riesigen Stadion, der Luitpoldarena, umgestalten. Die bot auf den Tribünen ringsum Sitzplätze für 50 000 Menschen, aber auf dem rechteckigen Aufmarschgelände, das die Tribünen umschlossen, fanden sogar mehr als 150 000 Parteisoldaten Platz. Genau gegenüber der Ehrenhalle wurde eine imposante Rednerkanzel für Hitler errichtet, gleich dahinter folgten halbrunde Terrassen für Fahnen- und Standartenträger der NSDAP. Eine 240 Meter lange und 18 Meter breite mit Granitsteinen gepflasterte Straße verband Kanzel und Ehrenhalle. Da schwor der Führer die Mitglieder seiner Partei auf bedingungslose Gefolgschaft ein und ließ sich wie ein Messias feiern. Dort pflegten die Nazis auch einen besonders grotesken Totenkult, der Beaufort an pervertierte Kirchenrituale erinnerte. Im vollbesetzten Stadion schritt Hitler zu Fanfarenklängen den Weg von seiner Rednerkanzel zur Ehrenhalle ab. Das sah aus, als würde er den Mittelgang einer Kirche entlang auf den Altar zugehen. Verstärkt wurde dieser Eindruck vom ›Oberpriester Hitler‹ noch durch seine beiden Begleiter, die Chefs von SA und SS, die wie zwei Messdiener wirkten. Was dann folgte, war ein pseudoreligiöses Altarsakrament mit – und hier wurde Beaufort ganz aufgeregt – einer blutbefleckten Hakenkreuzfahne. Es war die von den Nazis verehrte »Blutfahne«, die auf den Führer wartete. Sie war bei Hitlers misslungenem Putsch auf die Münchener Feldherrenhalle am 9. November 1923 mitgeführt worden, und an ihr klebte angeblich das Blut der dabei ums Leben gekommenen Nazis. Nachdem der Führer in einer Schweigeminute dieser »Märtyrer der Bewegung« gedacht hatte, ließ er die Standarten- und Fahnenträger aus allen Teilen des Reichs einzeln vortreten und ›weihte‹ persönlich mit der Blutfahne in der Hand jedes neue Zeichen der NS-Bewegung durch Berührung. Wer auch immer den jungen Toten in einer blutigen Hakenkreuzfahne dort in der Ehrenhalle abgelegt hatte, er musste sich ziemlich gut mit den Bräuchen der Nazis auskennen.
     
    *
     
    Frank Beaufort hatte gerade zu den Klängen von Verdis Requiem die Mail an ein Zürcher Auktionshaus mit seinem Gebot für eine Versteigerung abgeschickt – die seltene Erstausgabe von Kleists Michael Kohlhaas war ihm 4 000 Euro wert –, als Bläser und Chor eine dramatische Pause einlegten und er in der plötzlichen Stille die Türklingel hörte. Es war ein penetrantes Dauerschellen, das von einem energischen Pochen begleitet wurde, und so sprintete er die große Wendeltreppe hinunter, um zu öffnen. Anne und Frau Seidl standen vor der Tür, jede von ihnen mit einem dampfenden Topf in

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