Requiem
spät für uns. Dann möchte ich, dass jemand nach Baiersdorf fährt, und versucht, die Eltern des Toten zu interviewen. Wenn das nicht klappt, dann eben Nachbarn, Freunde, Bürgermeister, und so weiter.«
»Ich würde gern weiter dran bleiben. Es könnte aber knapp werden wegen des Bayern 3-Gesprächs.« Als diejenige, die zuerst über den Fall berichtet hatte, stand ihr das Recht zu, es auch weiter zu tun, sofern sie wollte und konnte. So wurde es in der Redaktion gehandhabt.
»Darf ich Sie daran erinnern, Anne, dass Sie diese Woche den Fußballdienst übernommen haben? Heute Mittag ist Training am Valznerweiher, und ich brauche für morgen einen bunten Beitrag über die Abstiegssorgen beim Club. Das können Sie doch gar nicht alles schaffen. Es sei denn, Sie überlassen den Sport jemand anderem.« Sie schätzte Annes Einsatz, wusste aber, dass ihre Mitarbeiterin manchmal dazu neigte, sich zu übernehmen.
Anne war in der Zwickmühle. Sie wollte sich den spektakulären Todesfall nicht abnehmen lassen. Wegen des Castings am Freitag mochte sie aber auch auf keinen Fall auf die Berichte über den 1. FC Nürnberg und Greuther Fürth verzichten.
»Ich könnte mich um den Club kümmern«, meldete sich Ina zu Wort.
Das war die Entscheidung.
»Nein, nein, ich mach das schon«, beeilte sich Anne einzuwerfen.
»Dann wäre das geklärt«, sagte die Chefin. »Sie machen noch das Live-Gespräch mit Bayern 3, steigen danach aus dieser Berichterstattung aus und besuchen am Mittag das Training. Wo steckt denn Katja? Sie ist doch schließlich unsere Expertin in Sachen Rechtsextremismus.«
»Hat noch bis morgen frei«, kam der Bescheid vom Wochenplaner.
»Wer fährt stattdessen nach Baiersdorf?«
Roland meldete sich als Erster.
»Ich habe Zeit diese Woche.«
»Dann ist es Ihr Thema«, erteilte sie ihm den Auftrag.
»Wenn ich vielleicht einen Vorschlag machen darf? Da das Interesse der Redaktionen schon jetzt so groß ist, wäre es nicht besser, zu zweit daran zu arbeiten? Ich könnte mich mit Anne abstimmen, wann sie Zeit hat. Sie ist doch schließlich schon drin im Thema.« Er strich sich über seinen Vollbart. Anne warf ihm einen dankbaren Blick zu.
»Eine gute Idee«, lobte SPD, »so machen wir’s. Denn ich bin mir sicher: Dieser Fall wird uns noch länger beschäftigen.« Weder journalistische Erfahrung noch eine prophetische Gabe hatten sie zu diesem Satz verleitet, sondern ein simples Faktum, das möglicherweise selbst der Polizei noch nicht aufgefallen war. »Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass dieser junge Mann Samstagabend oder Samstagnacht getötet worden ist, also am 20. April, dann muss mehr dahinter stecken. Ein toter Neonazi am Geburtstag des Führers, das kann kein Zufall sein.«
*
Beaufort stellte frisch gepressten Orangensaft, Salz- und Pfefferstreuer und Frau Seidls selbstgemachtes Quittengelee auf das Tablett. Aus dem Kühlschrank holte er ein kleines Butterschälchen, etwas Krabbensalat und ein paar Scheiben hauchdünn geschnittenen Greyerzer. Dann schreckte er sein Frühstücksei ab, das genau sechseinhalb Minuten gekocht hatte, und stülpte ihm einen Filzwärmer über. Während der frisch gemahlene Kaffee aus der Maschine in ein Porzellankännchen lief, ging er in den Flur, öffnete die Wohnungstür und bückte sich nach den Brötchen und den beiden Tageszeitungen, die er abonniert hatte – ein hiesiges Blatt und ein überregionales. Frau Seidl, die ihm jeden Morgen seine beiden Semmeln vor die Tür legte und um seine kriminalistische Ader wusste, war so vorausschauend gewesen, ihm auch noch die übrigen drei Tageszeitungen mit einem Nürnberger Lokalteil zu besorgen. Darunter auch die Zeitung mit den vier großen Buchstaben, die ihm für gewöhnlich nicht ins Haus kam. Zurück in der Küche ergänzte er das Tablett um Druck- und Backwerk, stellte Kaffee und Milch dazu und ging damit hinauf in seine Bibliothek. Beaufort war ein Spätaufsteher, der ein üppigeres Frühstück liebte, den nächsten Hunger am Nachmittag gern mit Tee und Kuchen stillte und am Abend dann erlesen und ausgiebig speiste. Von der Kalorienzufuhr her wäre das noch angegangen, wenn da nicht die diversen Pralinen-, Konfekt- und Schokoladenanfälle gewesen wären. Aber daran wollte er jetzt nicht denken. Warum sollte er sich sein Frühstück vermiesen? Das einzig Erfreuliche an diesem trüben Vormittag, denn es regnete noch immer Bindfäden.
Er stellte das Tablett auf den großen Tisch am Fenster ab, ging quer
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