Requiem
die als Gerichtsreporterin bei der Nürnberger Zeitung über zahlreiche informelle Kanäle bei Justiz und Polizei verfügte, sah Anne die Informationen des AZ -Artikels im Wesentlichen bestätigt. Von Hand schrieb sie ihren Text neu und nahm ihn gleich selbst im Studio auf. Das alles hatte nicht mehr als eine halbe Stunde verschlungen. Wenn Ina gehofft hatte, Anne würde es nicht rechtzeitig bis zu den nächsten Regionalnachrichten schaffen, dann hatte sie sich getäuscht.
Ein bisschen peinlich war ihr der berserkerhafte Auftritt von vorhin schon. Ina hatte eindeutig souveräner reagiert und einen Punktsieg in der A- und der B-Note eingefahren. Aber Anne neigte nicht zu übertriebener Selbstzerknirschung, sondern sah es eher sportlich. Ihre Stunde würde schon noch schlagen. Hoffentlich gleich am Freitag. Denn da war das Casting für die neue Regionalsportsendung im Bayerischen Fernsehen. Für die Präsentation der 15-minütigen Sendung, die immer am Sonntagabend um 23 Uhr in Nord- und Südbayern getrennt ausgestrahlt wurde, suchten sie noch eine weibliche Moderatorin für den Frankensport. Anne hatte sich beworben und war zu Probeaufnahmen eingeladen worden. Neben drei weiteren Mitbewerberinnen vom Fernsehen, die dort schon als Reporterinnen arbeiteten, hatte es vom Hörfunk nur noch Ina in die Casting-Auswahl geschafft. Sie war überall dort anzutreffen, wo man sich Meriten holen konnte, und ihr größtes Ziel war es, in ein paar Jahren die Redaktionsleitung zu übernehmen. Ihr krankhafter Ehrgeiz nervte in der Redaktion nicht nur Anne. Aber sie durfte Ina auf keinen Fall unterschätzen. In Bezug auf sportliches Fachwissen steckte Anne sie locker in die Tasche, doch ganz bestimmt war ihre Konkurrentin telegen. Und sie hatte immer ein paar Tricks parat und Beziehungen, die sie spielen lassen konnte. Ina war ein süßes blondes Miststück.
Anne holte sich in der Kantine einen Milchkaffee und eine Käsesemmel und ging hoch in ihr Büro, das sie sich mit Roland Salewski teilte, der gerade seinen Arbeitstag begann. Während sie ihre neuen Mails durchsah, berichtete sie Roland, zu dem sie ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, nebenbei von dem Zusammenstoß mit Ina. Danach redeten sie über den getöteten Neonazi, bis es Zeit war für die Neun-Uhr-Konferenz.
Obwohl noch eine knappe Minute bis zur vollen Stunde fehlte, betraten die beiden das Redaktionszimmer als Letzte. Acht Hörfunkkollegen standen schon im Halbkreis und unterhielten sich leise. Denn Sabine Peschel-Dorant, die Leiterin der Aktuellen Redaktion, führte ein strenges Regiment. Und Unpünktlichkeit zum Morgenappell – so bezeichneten Annes Kollegen die Sitzung, wenn ihre Chefin gerade nicht in der Nähe war – galt als Todsünde. Die zierliche, drahtige Journalistin trat soeben aus der Tür ihres angrenzenden Büros. Sie war Anfang 60, trug ihr graues Haar kurzgeschnitten und strahlte eine Autorität aus, um die sie selbst eine Eiskunstlauf-Trainerin in der DDR beneidet hätte. Sabine Peschel-Dorant, von ihren Mitarbeitern heimlich SPD genannt, war zwar autoritär, aber nicht ungerecht. Sie konnte ebenso gut loben wie tadeln. Wenn man Einsatz zeigte und gute Arbeit ablieferte, kam man gut mit ihr aus.
Zuerst berichtete Ina Pröls als Moderatorin der Regionalnachrichten über die aktuelle Meldungslage, wobei sie sich einen kleinen Seitenhieb auf Annes Beitrag nicht verkneifen konnte. Dann referierte der Wochenplaner die wichtigsten Termine des Tages: Drei Pressekonferenzen, die Plädoyers in einem Korruptionsprozess und eine Museumseröffnung standen an. Danach wurde kurz diskutiert, welche neuen Themen noch in dem regionalen Mittagsmagazin auf Bayern 1 Platz finden sollten und welche man den anderen Wellen des Bayerischen Rundfunks anbieten wollte. Top-Thema des Tages war natürlich der mutmaßliche Mord auf dem Reichsparteitagsgelände. Seitdem klar war, dass es sich bei dem Toten um einen Neonazi handelte, waren beim Chef vom Dienst mehrere Bestellungen eingegangen. B5 Aktuell wollte einen Beitrag, sobald es etwas Neues gab. Bayern 3 wünschte sich um 9.40 Uhr ein Reportergespräch mit Anne, in dem sie dem Moderator ihre Eindrücke schildern sollte, und auch die erste ARD-Anstalt, in diesem Fall der Hessische Rundfunk, hatte schon angeklopft.
»Für unsere Mittagssendung will ich natürlich auch einen Weiterdreh haben«, sagte SPD. »Wann gibt es das Obduktionsergebnis, Anne?«
»Frühestens am Nachmittag, sagt der Polizeisprecher.«
»Zu
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