Requiem
sie ihren Lippenstift nicht verschmieren wollte, und verschwand. Diese routinierte Distanz nach so viel intimer Nähe machte Beaufort traurig. Er hatte massenhaft freie Zeit, warum musste er sein Herz ausgerechnet an eine der meistbeschäftigten Frauen in dieser Stadt hängen?
Aber er wollte sich die Stimmung nicht vermiesen lassen. Beim Duschen beschloss er, heute nicht in seiner Bibliothek zu versauern, sondern tätig hinaus in die Welt zu gehen. Das schöne Wetter lud zu einem Ausflug ein. Und dass er niemals einen Führerschein gemacht hatte, hinderte ihn ja nicht an einer Fahrt ins Grüne. Es gab so viele interessante Orte im Umland. Forchheim etwa mit seiner Kaiserpfalz, oder Feuchtwangen mit seinem schönen Fränkischen Museum, oder die alte Hirten- und Hopfenstadt Hersbruck. Beaufort zog schwarze Jeans und einen dunklen Pullover an und startete seinen Computer. Mit drei Klicks hatte er Gessners Adresse im Internet gefunden und schrieb sie sich ab. Ein paar weitere Klicks auf Google Earth und er schaute sich Luftbildaufnahmen von Hersbruck an. Gessners Straße lag etwas außerhalb des Zentrums. Er zoomte sich näher heran, bis er das Hausdach erkennen konnte, ein kleines, freistehendes Einfamilienhaus in einer Siedlung fast identischer Wohnhäuser, die teilweise mit Anbauten und Wintergärten aufgehübscht worden waren. Das Straßengeflecht erinnerte an einen Kamm oder eine Harke, an jedem Zinken waren Häuser angedockt, so dass zwischen den Zinken beziehungsweise Straßen immer zwei Reihen Häuser standen, deren Hintergärten aneinander grenzten. Eigentlich erschreckend, was das Internet alles bot, fand Beaufort. Für Einbrecher war es geradezu ideal. Was musste man noch groß Häuser ausspionieren, wenn alles im Netz zu sehen war?
Beaufort steckte ein Schweizer Taschenmesser, einen Schraubenzieher, ein Stück Draht, eine Taschenlampe, ein paar Handschuhe und eine kleine Flasche Wasser in einen Lederrucksack und ging dann noch einmal hoch in die Bibliothek, um sich ein Buch auszuwählen. Er verließ das Haus nie ohne Lektüre. Eigentlich las er gerade Alessandro Manzonis Die Verlobten , aber das Buch war ihm zu dick und zu schwer, um es mitzuschleppen. Stattdessen zog er die schmale Erstausgabe von Horváths Jugend ohne Gott heraus, die 1937 in einem deutschen Exilverlag in Holland erschienen war. Vielleicht konnte er aus diesem Roman etwas über die Faszination junger Leute für den Faschismus erfahren.
*
»Härrschbrugg rechts der Bechnitz«, tönte die Lautsprecherdurchsage.
Es war eine angenehme Zugfahrt am Rand der Hersbrucker Schweiz entlang gewesen, und nun stand Beaufort am Bahnhof rechts der Pegnitz. Er hatte sich für die Pegnitztalbahn entschieden, die auf der alten Route von Nürnberg nach Cheb, dem früheren Eger, verkehrte, anstatt die Ostbahn Richtung Schwandorf zu nehmen, die links der Pegnitz entlangführte. Die Sonne stand hoch am Himmel, und nach dem eher spärlichen Frühstück hatte er bereits wieder mächtig Appetit – Reisen macht halt hungrig. Also ging er los und sah sich nach einem Lokal um. Schließlich war Hersbruck die erste Slow-City Deutschlands. Das hieß nicht, dass in der gemütlichen Provinz alles ein, zwei Gänge langsamer ging, sondern dass sich die Hersbrucker zum Ziel gesetzt hatten, auf eine bessere Lebensqualität, besonders im Bereich der Ernährung, zu achten. Gesunde Zutaten und regionale Spezialitäten langsam gekaut und genossen, das war eine Devise, die auch Beaufort nur gutheißen konnte. Es dauerte nicht lange, bis ihn ein Gasthaus lockte, vor dem, gut sichtbar, eine pralle Schweinsblase aufgehängt war. Das war keine besonders bizarre Form der Dekoration, sondern zeigte an, dass in diesem Haus heute Schlachttag war. Er bestellte eine Metzelsuppe mit Bauernbrot, die aus im Kesselsud gegartem zarten Fleisch und Innereien bestand, und weil die wirklich sehr lecker schmeckte, auch noch eine Schlachtplatte. Die war allerdings so üppig mit Kesselfleisch, Blut- und Leberwürsten, Sauerkraut und Kartoffeln belegt, dass er sie beim besten Willen nicht leeressen konnte. Zur Abrundung war deshalb ein Verdauungskatalysator in Form eines Obstlers unerlässlich, er entschied sich für Hersbrucker Kirsch. Danach war er so träge, dass er erst mal einen ausgiebigen Spaziergang durch die Altstadt machen musste. Nachdem er so sein inneres Gleichgewicht an der frischen Luft wiederhergestellt hatte, ging er zu dem Taxistand am Bahnhof zurück und stieg in das
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