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Requiem

Requiem

Titel: Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kruse
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hörte Anne erregtes Stimmengewirr. Als sie auf der Toilette fertig war, schlich sie sich in den Flur zurück, in der Hoffnung, einen anderen Eingang zum Festsaal zu finden. Es gab jedoch keinen. Also machte sie leise kehrt Richtung Gastraum. Die Tür des Festsaals stand immer noch einen Spalt weit offen, aber der martialische Türsteher war verschwunden. Vorsichtig öffnete Anne sie etwas weiter, und ihr Blick fiel auf zahlreiche Rücken. Da niemand sie beachtete, schlüpfte sie ganz hinein und blieb in der Nähe der Tür an der Wand stehen. Das Halbdunkel dort schützte sie. In dem erstaunlich großen Saal saßen vielleicht 100 ziemlich aufgeregte Menschen. Ein Redner peitschte sie auf und sprach von der neuen Bedrohungslage, die sich für die nationale Bewegung nach dem Tod eines ihrer Mitstreiter und dem Verschwinden eines weiteren ergeben hatte. Er wurde immer wieder durch Zwischenrufe und lautstarke Kommentare unterbrochen. In dem Stimmengewirr fielen Wörter wie ›Wachsamkeit‹, ›Schutztruppe‹, ›Zurückschlagen‹ und ›Bewaffnen‹.
    Da packte sie eine Hand an ihrer Schulter. Anne fuhr mit einem Mordsschrecken herum und schaute in das Gesicht des stoisch dreinblickenden Türstehers, der in der Linken ein halbvolles Weizenglas hielt. »Parole!«, sagte er lässig.
    Beaufort musste schmunzeln, als er an Annes Antwort dachte. Anstatt es mit »Nationaler Widerstand« oder »Sozial und national« oder Ähnlichem zu versuchen, war das erste, was ihr einfiel, der Bayern 1-Slogan »Wir lieben Oldies« gewesen. Der Typ war über diese Antwort so perplex, dass er sie für einen Moment losließ. Den nutzte Anne. Sie schlug ihm das Bierglas gegen die Brust, so dass er durchnässt nach hinten taumelte, und haute ab, so schnell sie nur konnte.
    Mit dem Ende von Annes Bericht waren sie an Beauforts Wohnhaus angekommen. »Meinst du, die planen etwas?«, hatte er Anne gefragt, als sie aus dem Auto stiegen, aber die hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Woher soll ich das wissen? Ich war nur zwei Minuten drin. Ich hatte eher den Eindruck, dass sie …«, sie hatte gezögert es auszusprechen, »… Angst hatten.«
    Nach diesem glücklich überstandenen Abenteuer fühlten sie sich aufgepeitscht, euphorisch, elektrisiert und geil. Im Fahrstuhl nach oben sahen sie einander mit diesem beinahe tierisch zu nennenden Tunnelblick an, der alles andere um sie herum verschwinden ließ. Diesmal schafften sie es nicht mal mehr bis auf den Küchentisch, sie fielen schon im Flur übereinander her. Auf den Stufen der großen Wendeltreppe erlebten sie zwar einige erregende Ekstasen, doch war es auch ziemlich unbequem. Nachdem die erste Lust gestillt war, pflegten sie einander die Blessuren. Frank rieb zärtlich ihre zerschrammten Knie mit Wundsalbe ein, Anne massierte seine gezerrten Oberschenkel mit Massageöl. Danach machten sie sich – nackt und mit Heißhunger – über Frau Seidls Wildschweinpastete her und leerten dazu eine Flasche Beaufort-Champagner. Den gab es tatsächlich. Ein Winzer namens Herbert Beaufort aus Bouzy kultivierte den edlen Tropfen. Beauforts Weinhändler Wolf-Dieter hatte das Gut auf seiner letzten Reise durch die Champagne entdeckt und einige Kisten davon mitgebracht. Ob da verwandtschaftliche Beziehungen zu seiner Familie existierten, wusste Beaufort nicht; gut möglich, dass es gemeinsame hugenottische Vorfahren gab.
    Anne neben ihm schmatzte im Schlaf und drehte sich im Bett. Beaufort schlug die Augen auf, es war heller geworden. Im Halbdunkel betrachtete er seine wie hingegossen wirkende Freundin. Sie lag mit dem Gesicht von ihm weg halb schräg auf dem Bauch, den linken Arm und das linke Bein angewinkelt. Die Decke war beiseite gerutscht, und er nahm den matten Schimmer ihrer nackten Haut wahr. Ein überwältigendes Gefühl der Zärtlichkeit für sie wogte durch seinen Körper. Umgeben von Vergänglichkeit und Tod waren das doch die wahren Momente des Lebens. Er beugte sich vor, küsste das dunkle Haar, den Nacken, die Schulter, den Rücken. Frank streichelte sie. Ein sanfter Schauer durchzog ihren schlafwarmen Körper. Er kuschelte sich an sie, knabberte an ihrem Ohrläppchen und ließ die Hand über ihre Hüfte gleiten.
     
    *
     
    »Dein Freund Gessner ist verschwunden.«
    Anne warf die Morgenzeitungen aufs Bett, stellte das Frühstückstablett ans Fußende und zog mit Schwung die Vorhänge auf.
    »Was ist?« Beaufort blinzelte schlaftrunken und verschloss die Augen sofort wieder vor dem

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