Requiem
gleißenden Sonnenschein. Er gähnte herzhaft, reckte und streckte sich.
»Sei vorsichtig, sonst fliegt das Frühstück noch runter.« Sie setzte sich an die Bettkante, sicherte mit der einen Hand das Tablett und strich mit der anderen über seinen Schopf. »Guten Morgen, Herr Pagenstecher«, sagte sie zärtlich und gab ihm einen Kuss. »Nach dieser Nacht verstehe ich erst die tiefere Bedeutung deines Pseudonyms.«
Beaufort grinste breit und zog sie an sich, rief dann aber: »Iiih, bist du feucht.« Er schlug die Augen auf und sah eine ziemlich verschwitzte Anne mit Stirnband und Pferdeschwanz.
»Ich war ja auch schon joggen, in den Pegnitzauen. Es ist so ein herrlicher Morgen.«
»Herzlichen Glückwunsch. Das würd’ mir ja im Traum nicht einfallen.«
»Ich weiß«, sagte Anne bedauernd und erhob sich.
»Wo willst du hin?« Er richtete sich halb auf. »Und was ist los mit Gessner?«
Anne streifte die verschwitzte Sportkleidung ab und ließ sie auf den Boden gleiten. »Ich gehe duschen. Und Gessner ist untergetaucht. Steht alles in der Zeitung.« Damit verschwand sie im Badezimmer.
Beaufort tastete nach seiner Brille auf dem Nachttisch und zog Tablett und Zeitungen zu sich heran. Wie Frau Seidl neulich hatte Anne von ihrem Joggingausflug auch die Nürnberger Druckerzeugnisse mitgebracht, die er nicht abonniert hatte. Er setzte sich aufrecht hin, stopfte sich ein paar Kissen in den Rücken und trank Milchkaffee aus dem Becher. Anne hatte die Brötchen bestrichen, eines mit Käse und eines mit Honig, außerdem eine Orange gepellt und einen Apfel in Stücke geschnitten. Er ließ ihr von allem die Hälfte übrig, aß und las.
Zuerst schnappte er sich die NZ , weil er wissen wollte, was Lotti Bruns geschrieben hatte. Sie brachte die Geschichte auf der Titelseite. »Führender Neonazi untergetaucht«, stand dort in großen Lettern. Lotti berichtete, dass Heinrich Gessner gestern nicht zur Fortsetzung seines Prozesses erschienen war. Auch der richterlich angeordnete Versuch, den Angeklagten durch eine Polizeistreife, wenn nötig in Handschellen, vorführen zu lassen, war erfolglos gewesen. In seinem Haus in Hersbruck, in dem er allein lebte, war Gessner nicht angetroffen worden. Niemand im Umfeld des Angeklagten hatte etwas über seinen Verbleib sagen können oder wollen. Auch Justizsprecher Ekkehard Ertl wurde zitiert, doch der enthielt sich in butterweichen Formulierungen jeglicher Einordnung des Vorfalls. Ob der Angeklagte sich wegen einer drohenden Verurteilung aus dem Staub gemacht oder nur eine Kurzreise angetreten habe, ohne die Behörden darüber zu informieren, das lasse sich derzeit noch nicht sagen. Auf Nachfrage Lotti Bruns’ bestätigte Ertl, dass auch ein Verbrechen nicht völlig ausgeschlossen werden könne, die Polizei ermittle routinemäßig in alle Richtungen. Vielleicht war ja Gessners mysteriöses Verschwinden der Grund, warum Ekki gestern ihren traditionellen Männerabend abgesagt hatte, ging es Beaufort durch den Kopf.
Auch die AZ brachte den Vorfall als Titelstory, nur war der Artikel reißerischer geschrieben und ziemlich spekulativ. Es wurden Heinrich Gessner sogar Verbindungen zu antizionistischen Terrororganisationen nachgesagt und gemutmaßt, dass er sich in den Nahen Osten abgesetzt haben könnte. Erstaunlich war, dass weder die NN noch die Bild -Zeitung etwas darüber brachten. Das deutete darauf hin, dass es keine offizielle Presseerklärung der Polizei und der Justiz zu dem Fall gegeben hatte, sondern nur die Journalisten davon Wind bekommen hatten, die gestern den grässlichen Prozess weiterverfolgen wollten.
Anne kam frisch geduscht, geföhnt, eingecremt, geschminkt und angekleidet aus dem Bad, hängte ihre verschwitzten Joggingsachen zum Trocknen auf, nahm einen Schluck kalten Kaffee und biss einmal in die Honigsemmel. Beaufort wollte mit ihr über Gessner reden, doch Anne musste weg zur Arbeit. Um zehn Uhr nahm sie an der wöchentlichen Konferenzschaltung des Sportfunks teil, und danach hatte sie die Spätschicht als Moderatorin der Regionalnachrichten, die bis 18 Uhr dauerte. Und am Abend hatte sie auch keine Zeit, teilte sie dem enttäuschten Beaufort mit, weil sie sich mit Katja treffen wollte, um für das anstehende TV-Casting zu üben. Auch die nächsten Tage würde Anne beruflich voll im Einsatz sein, doch irgendwie würden sie es schon schaffen, sich zwischendrin kurz zu sehen oder wenigstens miteinander zu telefonieren. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, weil
Weitere Kostenlose Bücher