Requiem
man sich schließlich unmöglich als Fan eines jüdischen Komikers outen.
Erst oben im Arbeitszimmer zeigte sich der wahre Neonazi. Die Bibliothek bestand beinahe durchweg aus schlimmen, die Wahrheit verzerrenden Geschichtsbüchern und antisemitischen Schriften. Dazu jede Menge Propagandamaterial, rassistische Flugblätter, braune Zeitungen und mehrere Kartons, die alle die gleiche CD enthielten: eine Zusammenstellung mit Musik der populärsten rechten Rockbands. So etwas wurde auf Schulhöfen verschenkt, um den jugendlichen Nachwuchs beizeiten zu ködern. Beaufort fragte sich, was einen notorischen Holocaustleugner ausgerechnet in Hersbruck wohnen ließ. Immerhin hatte es hier in den letzten beiden Kriegsjahren ein Konzentrationslager gegeben, in dem nachweislich 4 000 Menschen ums Leben gekommen waren.
Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Bad, alles war tadellos aufgeräumt. Vielleicht hatte Heinrich Gessner sich doch einfach nur für ein paar Tage oder Wochen aus dem Staub gemacht, bis sich die Aufregung um ihn gelegt haben würde.
Beaufort ging die Treppe wieder hinunter, als ihn der Anblick der Garderobe im Flur elektrisierte. Dort hing, ordentlich auf einem Bügel, Gessners Ledermantel – jenes Kleidungsstück, ohne das er niemals das Haus verließ. Beaufort konnte sich nicht vorstellen, dass Gessner untergetaucht war, ohne ihn mitzunehmen. Das Quietschen der Gartentür schreckte ihn aus seinen Betrachtungen. Durch die Gardinen im Wohnzimmerfenster sah er zwei junge Männer auf die Haustür zukommen. Er hatte sie beide im Gerichtssaal gesehen, sie gehörten zu Gessners braunen Jüngern. Der eine war der mit den langen Haaren, der andere der Blondierte, der ihm gedroht hatte.
Schon läutete es. Beaufort zog sich leise in die Küche zurück und schlüpfte aus der Hintertür. Er ging zügig und so geräuschlos wie möglich durch den Gemüsegarten und stieg über den Jägerzaun ins gegenüberliegende Nachbargrundstück. Dort steckte er die Hände in die Taschen und mimte den Hausbesitzer auf einem kleinen Rundgang durch seinen Garten. Keinen Moment zu früh, denn ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, dass die beiden Neonazis gerade zu Gessners Hintertür hochgingen. Sie beachteten ihn nicht. Da begann der Hund anzuschlagen. Er war klein und weiß und wuschelig und wuselte mit ohrenbetäubendem Gebell um ihn herum, traute sich aber nicht wirklich, ihn anzugreifen. Die beiden sahen zu ihm hinüber, und Beaufort rannte los. Am Haus angekommen drehte er sich abermals um und beobachtete, wie der Langhaarige über den Jägerzaun sprang und ihn verfolgte, während der Weißblonde in Gessners Vorgarten verschwand. Wahrscheinlich wollte er ihm den Fluchtweg von der Straße her abschneiden. Begleitet von dem aufgeregten Angstkläffer und um eine ältere Frau, die ihm mit erhobener Harke drohte, einen Haken schlagend erreichte Beaufort die Parallelstraße. In etwa 20 Metern Entfernung wartete sein Taxi, der Fahrer saß bei offener Tür hinterm Steuer, ließ sich von der Frühlingssonne bescheinen und war in eine Zeitung vertieft.
»Starten Sie den Wagen, schnell!«, rief Beaufort, auf das Auto zurennend.
Den Taxifahrer schien das nicht sonderlich zu kümmern. Beaufort riss die Tür auf und ließ sich auf dem Beifahrersitz fallen. »Wir müssen sofort weg hier. Fahren Sie los! Schnell!«
Der Taxler schüttelte ob dieser großstädtischen Hektik den Kopf und faltete gemächlich seine Zeitung zusammen, während Beaufort sich fragte, ob der Slow-City-Gedanke nicht vielleicht doch noch andere Bereiche als nur das Essen erobert hatte. Er blickte durch die Heckscheibe und sah, wie der Langhaarige, verfolgt von der Oma mit der Harke, über den Hund stolperte und der Länge nach hinschlug.
Wieder wandte er sich an seinen Fahrer und sagte etwas ruhiger, jedes Wort einzeln betonend: »Könnten Sie jetzt endlich losfahren? Bitte!«
»Also, ’s gäihd doch«, brummte der, einigermaßen zufrieden, dass das Zauberwörtchen doch noch gefallen war. Er schloss die Fahrertür und ließ den Motor an. »Und, wou soll’s hie?«
»Zurück zum Bahnhof. Nein, besser gleich nach Nürnberg«, korrigierte er sich. Zwar hatten ihn die beiden Neonazis wohl kaum erkannt, doch wollte er nicht das Risiko eingehen, hier länger auf den Zug warten zu müssen. Angesichts dieser unerwartet lohnenden Fuhre rollte das Taxi endlich los. Der Fahrer legte sich für seine Verhältnisse sogar richtig ins Zeug und ›brauste‹ mit Tempo 40 davon, obwohl hier nur
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