Requiem
Glaskästchen blitzte. Dazu ertönte aus Lautsprechern sphärische Musik. Auch hier war schwarzgekleidetes Sicherheitspersonal im Einsatz. Es wies behaubte Besucher zurecht, die sich nicht gemessen genug benahmen oder sich zu weit über die rote Kordel beugten, die für den nötigen Abstand zur Stele sorgte. Manchmal hob einer der Besucher mit einem Blick des Ekels die Füße oder räumte ruckartig die Ausstellungsfläche. Beaufort näherte sich dem merkwürdigen Spektakel mit gemischten Gefühlen. Es konnte ja wohl nicht wahr sein, dass die hier so eine Show um ein einziges Haar abzogen? Er betrat einen Teppich, ging so nah wie möglich an den Sockel heran, beugte sich vor und schaute angestrengt in den kleinen Glaskubus. Nach längerem Spähen entdeckte er dort ein nicht sehr langes schwarzes Haar. Das war alles. Dann beugte er sich noch tiefer, um den Text zu lesen, der an der Stele angebracht war. Der stellte die Frage, welches von den Medien vermitteltes Bild wir Nachgeborenen uns von Hitler eigentlich machten. Sei es, dass in einer belgischen TV-Show das Leibgericht des Führers nachgekocht wurde, sei es, dass Hitlers Wachsfigur in Madame Tussauds in Berlin von einem Betrachter geköpft wurde. Außerdem las er, dass er auf einem Teppich aus Haaren von 2 047 Menschen stand, was die merkwürdigen Reaktionen einiger Besucher erklärte. Kopfschüttelnd verließ Beaufort den Saal – er suchte noch nach der tieferen Bedeutung dieser Inszenierung.
Im nächsten Raum wies ihn ein Wachmann an, die Haube wieder abzunehmen und in den Eimer zu werfen. Dort bemerkte er einen großen Bildschirm an der Wand, der zeitversetzt das zeigte, was eben drinnen geschehen war. Er sah sich selbst, wie er mit ernster Miene den Glaskasten fixierte und die extra niedrig gehängten Texte an der Stele las. Nur sah das Ganze im Film so aus, als würde er sich ehrfürchtig davor verbeugen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er Teil einer Kunstaktion geworden war. Die drei Künstler Thor van Horn, Thomas Mohi & Norbert Mebert zeichneten dafür verantwortlich. Hitlers Haar war natürlich nicht echt, es ging wohl vielmehr darum zu zeigen, wie bedingungslos die meisten Menschen Autoritäten gehorchten und wie sehr mediale Vermittlung ein Bild verzerren konnte. Obwohl Beaufort skeptisch an die Sache herangegangen war, hatte er sich brav den Sicherheitsleuten gefügt und die bescheuerte Haube aufgesetzt. Und ausgesehen hatte es, als verehre er eine Nazi-Reliquie. Nachdenklich ging er in den Sonnenschein hinaus und rückte seine Krawatte zurecht. Für einen kritischen Geist wie Beaufort war es eine echte Offenbarung, wie leicht selbst er sich manipulieren ließ.
*
Es war bereits fünf nach elf, und Beaufort schaute sich um. Auf dem Parkplatz vor dem Dokumentationszentrum entdeckte er einen jungen Mann mit einer Umhängetasche, der dort wartete.
»Sind Sie von Geschichte für Alle ?«, fragte er, an ihn herantretend.
»Dann sind Sie Herr Beaufort? Mein Name ist Renzo.« Er reichte ihm die Hand und schaute sich suchend um. »Wo ist denn ihre Gruppe?«
»Die Gruppe bin ich«, sagte Beaufort so hoheitsvoll, dass selbst König Ludwig XIV. sich noch eine Scheibe davon hätte abschneiden können.
Das war dem jungen Historiker denn doch etwas suspekt, weshalb er Vorkasse verlangte. Aber nachdem Beaufort anstandslos den Preis einer Gruppenführung bezahlt hatte, war er beruhigt und hielt seinen Kunden für einen reichen Exzentriker. Und irgendwie hatte er mit dieser Einschätzung ja nicht ganz unrecht.
Renzo versuchte Beaufort zuerst anschaulich zu machen, wie der Nazi-Spruch »Du bist nichts, dein Volk ist alles« auch in der Architektur umgesetzt wurde. Er demonstrierte ihm, wie die überproportionierte Bauweise der Kongresshalle, in der bequem Nürnbergs größte Kirche, die Lorenzkirche, Platz gefunden hätte, auf den Besucher wirkte. So entpuppten sich selbst die von weitem normal groß aussehenden Türen im Wandelgang der Halle als mindestens dreimal so hoch, wenn man direkt vor ihnen stand. Das kolossale Gebäude wirkte auch unfertig noch ziemlich einschüchternd. Und das sollte so sein.
»Wissen Sie, aus welchem Material die Kongresshalle besteht?«, fragte Renzo.
»Sieht aus wie Granit. Und da die Nazis ja schließlich für tausend Jahre bauen wollten, haben sie bestimmt einen harten Stein bevorzugt.«
»Das stimmt. Aber ein so großes Gebäude aus Granitquadern zu errichten, wäre selbst für die Nazis unbezahlbar gewesen. Wenn Sie
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