Requiem
Betriebsausflugs. Das lag vermutlich daran, dass der Kongress erst in einer halben Stunde anfing und noch eine gewisse aufgeregte Vorfreude zu spüren war. Viele Teilnehmer genossen es auch ganz einfach, nette Fachkollegen wiederzutreffen.
Nur woher sollte Beaufort wissen, wer von all diesen fröhlichen Experten der richtige Ansprechpartner für ihn war? Er kannte hier keinen einzigen Menschen. Zwar hatte er sich heute Morgen im Internet über den Kongressablauf schlau gemacht, er wusste jetzt, welche Workshops und Vorträge es gab, und auch, dass der Oberbürgermeister um zwölf Uhr im Kaisersaal ein Grußwort sprechen würde, doch beim Durchsehen der langen Liste der Teilnehmer war er gescheitert. Also hatte er beschlossen, rechtzeitig vor der Eröffnung herzukommen und sich auf sein Glück zu verlassen.
»Hallo Herr Dr. Beaufort. Sie hätte ich hier ja nicht erwartet.«
Vor ihm stand eine zierliche junge Frau in einem dunkelblauen Kostüm.
»Ich Sie hier auch nicht, Simone.« Er schüttelte ihr die Hand. »Müssten Sie nicht in der Uni sein?«
Simone Reimann studierte aufs Lehramt und hatte bei ihm vor ein paar Semestern den Einführungskurs Sozialkunde belegt. Sie lächelte zu ihm hoch.
»Heute und morgen nicht, da arbeite ich hier. Ich jobbe bei einer Agentur, die Kongresse und Messen organisiert.«
»Und gefällt es Ihnen?«
»Ja, sehr. Ich lerne viele interessante Leute kennen und kann meine Fremdsprachen anwenden.« Ihr blonder Pferdeschwanz hüpfte beim Sprechen munter hin und her. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für Medizin interessieren.«
»Das tue ich auch nicht wirklich. Aber seit kurzem beschäftige ich mich mit Obduktionsberichten.«
»Das klingt ja geheimnisvoll. Sie wissen hoffentlich, dass Sie hier keine Pathologen finden werden. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«
»Das können Sie tatsächlich, Simone. Ich muss nämlich dringend einen der Referenten sprechen.«
»Nennen Sie mir einfach seinen Namen, dann schaue ich nach, wo Sie ihn finden können.« Sie deutete auf den Empfangstisch, wo die Kongressunterlagen waren.
»Eben das ist mein Problem. Ich weiß nämlich nicht, wen ich eigentlich treffen möchte.«
Beaufort zog die Augenbrauen hoch und legte die Stirn in Falten, was ihm ein leicht zerknautschtes Aussehen gab, und erläuterte der Studentin kurz sein Anliegen. Die führte ihn daraufhin zu einem der beiden Ärzte, die den Kongress organisierten. Beaufort erklärte ihm, welche Art Experte er zu sprechen wünschte, und der musste nicht lange überlegen. Seine Antwort kam postwendend: Professor van Vlooten. Der war Arzt und Psychiater, hatte einen Lehrstuhl in Düsseldorf inne, besaß eine Praxis in Utrecht, war mit der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen schon mehrfach in Bürgerkriegsgebieten tätig gewesen, galt als einer der führenden Traumaexperten und hatte auch schon für die holländische Polizei als Profiler gearbeitet. Beaufort fand, dass das sehr vielversprechend klang, dankte und ließ sich von Simone zu dem Professor führen.
Sie fanden ihn im Kaisersaal. Die Studentin deutete auf einen kleinen, untersetzten Mann mit dichtem schlohweißem Haar in einem marineblauen Anzug. Er stand an einem der Fenster und kehrte ihnen den Rücken zu. Beaufort durchquerte den Saal, stellte sich neben ihn, blickte ebenfalls auf das Panorama der Stadt unter sich und begann nach einer Weile zu sprechen.
»Dort rechts ist der Neutorturm, einer der vier dicken Türme in der Stadtmauer – er ist rund 450 Jahre alt.« Der Professor schaute in die angezeigte Richtung. »Und das da sind unsere beiden schönsten gotischen Kirchen. Hier vorn, gleich neben dem historischen Rathaus, ist die Sebalduskirche, in der schon Albrecht Dürer geheiratet hat. Und dort hinten ist die Lorenzkirche. Da finden Sie auch den berühmten Englischen Gruß von Veit Stoß.«
»Und was ist das für ein Gebäude da? Das mit der grünen Kuppel?«
Der Gelehrte sprach mit einer warmen, sonoren Stimme und klang ein wenig wie der Liedermacher Hermann van Veen. Beaufort gefiel sein holländischer Akzent.
»Das ist die katholische Elisabethkirche. Ein klassizistischer Bau aus der napoleonischen Zeit, also grade mal 200 Jahre jung. Gleich dahinter liegt übrigens das Polizeipräsidium.«
»Dort arbeiten die Polizisten bestimmt gerade unter Hochdruck an dieser Mordserie.«
»Sie haben davon in Holland gehört?« Beaufort war erstaunt darüber, doch wenigstens war damit schon mal sein Thema
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