Requiem
angeschlagen.
»Nein, in Düsseldorf. Aber ich bin sicher, dass auch die niederländischen Medien darüber berichten. Mein Land hat unter Nazideutschland sehr gelitten und ist sensibel für alle Themen aus diesem Bereich. Kann man von hier aus das Reichsparteitagsgelände sehen?«
»Ja.« Beaufort rückte näher an den Mann heran und deutete mit seinem Arm nach links. »Sehen Sie ganz weit hinten das Riesenrad? Das steht schon mitten auf dem Gelände. Und dieses große Gebäude links daneben, das ein wenig wie das römische Kolosseum aussieht, ist die Kongresshalle. Eines der Bauwerke aus der Nazizeit.«
»Steht das Riesenrad immer dort?«
»Nein, nur wenn Volksfest ist. Also zweimal im Jahr.«
»Auf dem Reichsparteitagsgelände findet ein Jahrmarkt statt? Ist das nicht etwas pietätlos?«
Darüber hatte Beaufort noch gar nicht nachgedacht. Solange er sich erinnern konnte, war das schon immer der Volksfestplatz gewesen. Für ihn gehörte das zu den gegebenen Dingen, die er noch nie infrage gestellt hatte.
»Ich glaube nicht, dass das pietätlos ist«, sagte er nach einem Zögern. »Bevor sich die Nazis das Gelände krallten, war es ein Freizeitareal und Naherholungsgebiet, und jetzt ist es das zum Teil wieder. Wenn man die Vergangenheit dort achtlos verdrängen würde, würde ich Ihnen zustimmen. Doch in den letzten Jahren wird eine Menge getan, um darüber aufzuklären. Überall stehen Informationstafeln, es gibt ein sehr gutes Dokumentationszentrum, und Rundgänge werden dort auch angeboten.«
»Haben Sie das Gefühl, Ihre Stadt verteidigen zu müssen?« Er sah ihn milde lächelnd an.
»Sie stellen interessante Fragen, Herr Professor van Vlooten. Nürnberg war genauso schlimm mit dem Nationalsozialismus verbandelt wie andere Städte in Deutschland auch. Trotzdem trägt die Stadt heute an der Last der Geschichte schwerer als die anderen. Wir sind bereit, sie zu schultern und uns der braunen Vergangenheit zu stellen, denn nur wenn man jeder Generation aufs Neue erklärt, was hier vorgefallen ist, besteht die Hoffnung, dass so etwas nie wieder geschieht. Aber nehmen Sie nur diese furchtbaren Nürnberger Rassengesetze, die die deutschen Juden zu rechtlosen Untermenschen erklärt haben. Das klingt, als sei es ein Gesetz des Stadtrates gewesen. Dabei war es eines des Reichstages in Berlin, das nur hier in dieser Stadt proklamiert worden ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände. Das ist doch kein Areal der Stadtgeschichte, das ist ein nationaler Gedenkort.«
Beaufort hatte sich in Rage geredet. Er war selbst erstaunt über seinen kleinen Monolog und hatte gar nicht gewusst, dass er ein solcher Lokalpatriot war. Aber die intensive Beschäftigung mit dem Thema in den vergangenen beiden Wochen hatte etwas in ihm in Gang gesetzt. Er war sich erst jetzt des Stigmas so richtig bewusst geworden, das der Nationalsozialismus seiner Stadt aufgedrückt hatte. Das putzige Nürnberger-Bratwurst-und-Lebkuchen-Image mit dem Christkind in der Mitte hatte – bestimmt nicht unverdient – eine bittere braune Grundierung bekommen, die mit der nostalgischen Sepia-Färbung alter Postkarten nichts gemein hatte.
»Möchten Sie mir nicht Ihren Namen verraten, nachdem Sie meinen schon kennen?« Der Professor sah ihn fragend an.
»Oh, natürlich. Dr. Frank Beaufort.«
»Ein Kollege aus Nürnberg?« Sie reichten sich die Hände.
»Leider nein, ich bin Geisteswissenschaftler und kein Mediziner. Deshalb brauche ich auch Ihren Rat. Ich bin hergekommen, um Sie zu treffen.«
»Und wie könnte ich Ihnen helfen?«
»Indem Sie mir sagen, warum dieser Unbekannte all diese Morde auf dem Reichsparteitagsgelände begeht.«
»Und Sie glauben, dass ich das kann?«, schmunzelte er, »obwohl ich noch niemals zuvor in Ihrer Stadt, geschweige denn auf diesem Gelände dort gewesen bin?«
»Diese Hoffnung habe ich, ja.«
»Das ist sehr schmeichelhaft.« Er verbeugte sich leicht. »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte er dann sanft.
»Weil ich die drei Toten gesehen habe und nicht möchte, dass es einen vierten Mord gibt.«
»Mussten Sie sich die Leichen denn betrachten oder wollten Sie es?«
Beaufort schwieg einen Moment. »Ich denke, ich wollte es so.«
»Warum?«
»Beim ersten Mal war ich rein zufällig da, aber von da an ließ es mir keine Ruhe mehr.« Dem Professor steckte der Psychotherapeut offenbar im Blut. Anstatt Fragen zu stellen, beantwortete Beaufort dauernd welche. Zeit für ihn, den Spieß
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