Requiem
Unterschlupf.«
Beaufort kaute Gebäck und dachte an den Vorfall in Langwasser mit den beiden Pakistanis, den Sudanesinnen und den Neonazis. Natürlich hatte sein Gesprächspartner recht, die globalisierte Welt war enger zusammengerückt.
»Na gut. Nehmen wir mal an, der Reichsparteitagsmörder führt einen Rachefeldzug und tut das, weil er selbst schlimme Misshandlungen, vielleicht sogar Folter erlebt hat. Warum macht er das? Sie haben doch selbst gesagt, dass die wenigsten Opfer auch zu Tätern werden. Ich habe immer gedacht, die Zeit heilt alle Wunden.«
Der Mediziner stellte seine Tasse ab und lächelte.
»Würde das stimmen, wären wir Psychotherapeuten arbeitslos. Doch meistens gilt: Ohne Behandlung können viele Menschen ihr Trauma nicht verarbeiten. Zunächst wird es verdrängt, aber es belastet die Seele wie ein Fremdkörper. Noch Jahre später kann es zu gravierenden psychischen und physischen Leiden kommen. Wir bezeichnen das als posttraumatisches Belastungssyndrom.«
»Und wie äußert sich das?«, fragte Beaufort, Kekse knabbernd.
»Angstzustände. Schlafstörungen. Die Langzeitfolgen sind meist psychosomatisch. Viele haben chronische Schmerzzustände, manche extreme Rückenschmerzen, dauernde Migräne oder Beschwerden des Magen-Darmtrakts. Manche können nicht mehr normal essen, sie haben bei jeder Mahlzeit Magenschmerzen. Und es gibt die psychischen Folgen. Das kann so weit gehen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, einen normalen Alltag zu leben. Viele können keine sozialen Kontakte mehr haben, nicht einmal mehr zu ihren nächsten Angehörigen.«
»Wir suchen also nach einem psychotischen Einzelgänger mit einem nicht behandelten posttraumatischen Belastungssyndrom und einem mörderischen Sendungsbewusstsein?«, fasste Beaufort zusammen.
»Es ist nur eine mögliche These, aber eine, für die einiges spricht«, stimmte der Professor zu.
»Aber warum mordet der Täter jetzt? Warum nicht schon vor drei Monaten? Warum nicht erst in einem Jahr?«
»So ein verdrängtes Trauma ist eine Art Tretmine. Sie muss nicht, aber sie kann jederzeit durch eine Erschütterung hochgehen. Auslöser kann ein ganz nebensächliches Ereignis sein oder ein ganz gravierendes. Es gibt auch Kranke, denen eine innere Stimme etwas befiehlt. Das Spektrum ist vielfältig. Patienten mit einer solchen Störung ähneln sich nun mal nicht wie ein Ei dem anderen.«
»Was für ein Abgrund«, seufzte Beaufort.
»Jeder Mensch ist ein Abgrund, und es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.«
Beaufort hatte diesen Satz schon mal gelesen, erinnerte sich aber nicht mehr wo. In die Lobby kam Bewegung, der Oberbürgermeister betrat mit einer kleinen Delegation das Gebäude. Die Kongressteilnehmer strömten in den Saal.
»Es wird Zeit hinaufzugehen. Kommen Sie mit?«, fragte der Professor.
»Leider nein, ich habe gleich einen wichtigen Termin und will noch ein wenig über unser Gespräch nachdenken. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.«
Die beiden Männer verabschiedeten sich voneinander, und Professor van Vlooten verschwand mit gesetzten Schritten im Kaisersaal.
Beaufort war mit einem Mal ganz allein im Vorraum. Er schnappte sich den letzten Keks und steckte ihn in den Mund. War die Schale nicht voll gewesen, als er mit dem Professor runterkam? Kein Wunder, dass er nach so viel Süßem einen unwiderstehlichen Appetit auf etwas Herzhaftes verspürte. Drei im Weckla wären jetzt genau das Richtige. Auf dem Weg zum Polizeipräsidium würde er noch schnell einen Abstecher ins Bratwursthäusle machen.
*
Am Fuße der Burg angelangt, schaute Beaufort noch einmal zurück. Es war ein Anblick, der ihn immer wieder aufs Neue begeistern konnte. Kein Wunder, dass auch Adolf Hitler diese Kulisse einst schätzte und nutzte. Er hatte gelesen, dass es dort oben auf dem Felsen, gar nicht weit weg vom Kaisersaal, einen Sockel gegeben haben sollte, auf dem der Führer beim Reichsparteitag 1936 die Huldigungen der Bevölkerung entgegengenommen hatte. Dieses Bild hatte sich derart ins kollektive Gedächtnis der Nürnberger eingebrannt, dass der Söller nach dem Krieg, beim Wiederaufbau der großteils zerstörten Burg, kurzerhand abgerissen wurde, obwohl er noch heil war. Das war die damalige Form der Vergangenheitsbewältigung: Verdrängen und Vergessen, wenn nötig auch mit Dynamit. Es mussten erst zwei neue Generationen heranwachsen, ehe sich die Stadt wirklich intensiv mit ihrer Schuld auseinandersetzte und die
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