Requiem
endlich umzudrehen. »Glauben Sie, dass der Täter ein Sadist ist?«
»Interessant, dass Sie mich das fragen. Denn ich habe mich dasselbe auf der Zugfahrt hierher auch gefragt, als ich über diese Morde in der Zeitung las. Ich habe schon ein paar Mal mit Serienmördern zu tun gehabt, wissen Sie, aber dieser Täter unterscheidet sich in zwei Punkten von denen, die ich kenne. Erstens versteckt er die Leichen nicht, um seine grausamen Verbrechen zu vertuschen, sondern er stellt sie regelrecht zur Schau. Und zweitens werden seine Taten nicht immer noch schlimmer und zügelloser. Das ist kein Mörder im Blutrausch, sondern einer, der sehr kontrolliert und kaltblütig vorgeht und bei jedem Opfer aufs Neue entscheidet, was er mit ihm tun wird.«
»Und das bedeutet?«, fragte Beaufort erwartungsvoll.
»Das bedeutet, dass es diesem Täter nicht um das Morden an sich geht – das ist kein perverser Sadist – sondern um die vollendete Tat.«
»Der Schraubenzieher im rechten Auge des Richters war aber ein extrem unappetitlicher Anblick«, warf der Hobbydetektiv ein.
»Wovon sprechen Sie? Davon stand nichts in der Zeitung.«
Beaufort erklärte es ihm.
»Was für ein interessantes Symbol. Gerade, weil es eine postmortale Verletzung war. Der Ermordete hat davon nichts mehr gespürt.«
»Das ist doch trotzdem krank. Hat der Mann den überhaupt kein Mitleid?«
»Doch. Gerade weil er die Wunde mit dem Schraubenzieher erst an dem Toten vollzogen hat und nicht etwa am lebenden Gefangenen, deutet das auf Reste von Mitleid hin.«
»Aber das zweite Opfer ist mit Schnitten und Stichen über Stunden hin gefoltert worden, ehe es getötet wurde. Wo war denn da das Mitleid?«
»Es gibt Personen, die können das abstellen oder verdrängen.« Der Professor schob seine Daumen hinter die weißen Hosenträger vor seiner Brust, die seine Anzughose hielten. »Das gibt es im normalen Leben übrigens auch. Denken Sie nur an führende Firmenbosse oder Banker. Wenn es denen an Mitgefühl und Gewissen mangelt, werden sie als knallharte Geschäftspartner auch noch gefeiert.«
»Sie meinen, der Täter könnte aus diesen Kreisen stammen?«
»Nein, das meine ich überhaupt nicht. Ich habe nur gesagt, dass es in diesem einen Punkt Übereinstimmungen mit Wirtschaftsführern geben kann. Ich denke vielmehr, dass Ihr Täter ein tiefsitzendes Trauma hat, an dem er sich in Form dieser bizarren Morde abarbeitet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Mensch zuerst Opfer war, bevor er zum Täter wurde.«
»Oh, glauben Sie, er hatte eine schlimme Kindheit?«, sagte Beaufort ironisch.
»Die Wenigsten, die als Kind missbraucht wurden, werden als Erwachsene zu Vergewaltigern. Doch viele, die vergewaltigen, haben selbst Missbrauch erlebt. Das Trauma dieses Täters muss nicht in seiner Kindheit liegen. Aber ich vermute, dass er übelste Dinge erlebt hat, wenn er sich auf diese Art zum Richter aufschwingt.« Der Mediziner schaute auf die Uhr. »Wir haben noch gut zehn Minuten, bis der Kongress eröffnet wird. Sollen wir nicht noch einen Kaffee trinken gehen? Ich habe vorhin unten in der Lobby eine Versorgungsstation entdeckt.«
Die beiden Männer gingen aus dem Saal und die Treppen hinunter. In einer Ecke waren drei Tische zusammengestellt, auf denen kalte und warme Getränke sowie Gebäck und Kekse für die Kongressteilnehmer zur Selbstbedienung bereitstanden. Beaufort schenkte beiden aus einer Thermoskanne Kaffee ein. Er goss sich Milch dazu, der Professor trank den seinen schwarz.
»Und um was für ein tiefgreifendes Trauma könnte es bei dem Mörder gehen?«, fragte Beaufort, die zu volle Tasse vorsichtig an die Lippen führend.
»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Leider ist die Welt ja voller schlimmer Gräuel. Die Medien liefern uns die Schreckensbilder täglich frei Haus, aus dem Kongo, dem Gazastreifen oder dem Irak: Menschen im Krieg und auf der Flucht, die Unaussprechliches erlebt haben. Manchen wurden die Häuser angezündet, manche mussten die Ermordung von Nachbarn oder Familienmitgliedern mitansehen, manche wurden durch Bomben oder Minen verletzt, und manche erlitten Hunger und Durst, Vergewaltigung und Folter. Ich war selbst in Mazedonien und Uganda und habe dort schwerst traumatisierte Patienten betreut.«
»Das kommt mir alles sehr weit weg vor.«
»Oh nein«, widersprach der Professor vehement, »das ist ganz nah dran. Nach Gaza sind es nur drei Flugstunden. Und viele Opfer solcher Katastrophen finden bei uns in Europa
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