Rescue me - Niemand wird dich schützen
fragile Stabilität angriff, um die sie so hart gekämpft hatte. Sie
strengte sich nach Leibeskräften an, wach und vernünftig zu bleiben.
Noch pochten eiskalte Überreste von Angst in ihr, doch sie erhob sich und stand kerzengerade, sobald sie die Orientierung wiedergefunden hatte. Ihre Augen nahmen die kühlen, meergrünen Wände auf, das Lichtflackern auf den hellbraunen Vorhängen vorm offenen Fenster, den weichen, dichten Teppich unter ihren nackten Füßen. Um sie herum war nichts als die ruhige, friedliche Normalität ihres Schlafzimmers.
Mit bitterer Selbstverachtung unterdrückte sie die Panik, die noch in ihr brodelte. Mal wieder der Traum. Um diese Jahreszeit stellte er sich regelmäßig ein, also hätte sie darauf gefasst sein müssen, vorbereitet sein sollen. Aber diesmal war der Traum realer gewesen, als hätte die Gefahr näher denn je gelauert.
Sie glaubte weder an Visionen noch an hellseherische Fähigkeiten. Das war nichts als Hokuspokus, vager Blödsinn. Sie vertraute auf kalte, harte Fakten. Sie hatte geträumt, sonst nichts. Die Tatsache, dass es sich realistischer angefühlt hatte als andere Träume, bedeutete rein gar nichts.
Klare, heiße Wut durchfuhr sie, reinigend, klärend, die jeden Anflug von Hilflosigkeit wegbrannte. Sie durfte ihre Zeit nicht mit diesem Mist verplempern, denn sie hatte einen Auftrag. Das morgige Treffen erforderte ihre volle Konzentration.
Tiefe, regelmäßige Atemzüge weiteten ihre Lunge und verdrängten alle Gedanken, die nichts mit ihrem Auftrag zu tun hatten. Alle noch vorhandenen Ängste schloss sie in den winzigen Winkel ein, den nur sie allein kannte und zu dem einzig sie Zugang hatte. Dort blieben sie, für immer.
Sie weigerte sich, auch nur eine Sekunde länger über ihren Traum nachzudenken, zog sich ihre Shorts, den Sport-BH und die Laufschuhe an, band ihr langes Haar nach hinten und ging ins zweite Schlafzimmer, das sie zu einem Trainingsraum umfunktioniert hatte. An der Tür blieb sie stehen und atmete noch einmal tief ein. Konzentrier dich. Vergiss.
Drinnen boxte, trat und schlug sie den Traum in die Flucht. Schweiß rann ihr über den Körper, und sie genoss das Gefühl von Reinigung, das damit einherging. Nach dem Boxsack nahm sie sich das Laufband vor, das sie auf halsbrecherische Geschwindigkeit einstellte. Ihre Füße klopften im Takt mit ihrem Herzen, während sie vor den letzten noch verharrenden Dämonen davonlief.
Selbstbestrafung würde Noah es nennen. »Wenn du wütend bist, erkenne jede Verwundbarkeit in dir und prügle sie aus dir raus.«
Und sie hatte ihm mehr als einmal gesagt: »Noah, du hast ja keinen Schimmer.« Daraufhin bedachte er sie mit diesem ruhigen, überlegenen Lächeln, das er über die Jahre perfektioniert hatte und mit dem er sie erst recht wütend machte.
Ihre Füße wurden schneller. Noah irrte sich. Sie hatte überhaupt keine Schwachstellen oder verwundbaren Punkte. Nicht, wenn es um Gefühle ging. Nichts brachte sie aus der Fassung, und es gefiel ihr so. Sie kümmerte sich um Probleme, beseitigte Hindernisse. Doch sie tat es ausnahmslos mit kühler, kontrollierter, emotionsloser Leere.
Noah McCall hatte es sie gelehrt.
Das Leben hatte es sie gelehrt.
Ein Magenknurren zwang sie aufzuhören. Der Selbsterhaltungstrieb setzte sich gegen das Adrenalin durch, das
durch ihren Körper pumpte. Sie wischte sich Gesicht und Körper mit einem sauberen Handtuch ab und ging in ihre Küche.
Binnen Minuten hatte sie Rührei, Toast und Kaffee zubereitet und vertilgt. Leicht und bekömmlich war alles, was sie wollte. Essen war Treibstoff, nichts weiter. Sie genoss es nicht und hatte auch nie Heißhunger auf irgendwelche Speisen. Doch ohne Essen konnte sie nicht überleben, und wenn sie eines gelernt hatte, dann war es, wie man überlebte.
Nach dem Essen kam der Lieblingsteil ihres Morgens. Sie betrat ihr Badezimmer und erlaubte sich erstmals seit dem Aufstehen, etwas langsamer zu machen und das Ritual beinahe auszukosten. Sie zog sich aus und stellte sich unter den prasselnden Duschstrahl, der alle Sorgen fortspülte. Mit geschlossenen Augen seifte sie sich ein, was einem sinnlichen Vergnügen ziemlich nahe kam.
Anschließend rubbelte sie sich das rotblonde Haar trocken. Dass es nicht ihre natürliche Farbe war, registrierte sie kaum mehr. Die Haar- und Augenfarbe zu wechseln, war für sie inzwischen so normal, wie ein anderes Paar Schuhe anzuziehen. Sie föhnte die lange Mähne und ließ sie offen über ihren Rücken
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