Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burnout (German Edition)
heimsucht, wenn sie von fremden Mächten beherrscht werden. Paradiesisch war die Landschaft, doch für viele Kinder war das Leben hier die Hölle. Alkoholismus und Armut waren Alltag auf der Insel. Das traurige Leben pflanzte sich bereits in der zweiten Generation fort: Die Kinder der armen Arbeiter von den Zuckerrohrplantagen dieser Garteninsel wurden häufig vernachlässigt oder sogar misshandelt, nicht selten waren die Ehen ihrer Eltern zerrüttet, an Geld fehlte es immer. An diese Jungen und Mädchen hätte wohl niemand geglaubt.
Doch am Ende gab es eine Überraschung: Vierzig Jahre lang hat die amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner gemeinsam mit ihrem Team von der University of California exakt 698 Jungen und Mädchen von Kauai immer wieder befragt und beobachtet. Das waren alle Kinder, die dort im Jahre 1955 geboren wurden. 201 von ihnen wuchsen auf dem ohnehin schon schwierigen Inselchen unter besonders problematischen Bedingungen auf: Sie waren schon in frühester Kindheit traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, hatten psychisch kranke oder alkoholsüchtige Eltern oder lebten in chronischem Unfrieden in ihren Familien. Diese Kinder hatten es Werner angetan.
Dabei hatte sie einen Blick auf die Menschen, den die wenigsten Forscher vor ihr wagten: Sie interessierte sich weniger für jene zwei Drittel der Kinder, welche erwartungsgemäß kaum aus den Schwierigkeiten herauskamen, in die sie hineingeboren wurden. Diese 129 jungen Menschen erfüllten die negativen Erwartungen, mit denen alle Welt ihnen begegnete: Schon im Alter von zehn Jahren fielen sie durch Lern- und Verhaltensprobleme auf; und bevor sie ihren 18. Geburtstag feierten, waren sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder selbst psychisch krank geworden.
Die junge Psychologin untersuchte das dritte, das überraschendeDrittel der besonders belasteten Kinder: 72 kleinen Hawaiianern gelang es nämlich, ihre schwierige Situation zu meistern und trotz ihrer schlechten Sozialprognose ein ordentliches Leben zu führen. Diese Kinder zeigten zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Verhaltensauffälligkeiten. Sie waren gut in der Schule, waren in das soziale Leben ihrer Insel eingebunden und setzten sich realistische Ziele. Im Alter von 40 Jahren war keine dieser Personen arbeitslos, keine straffällig geworden und keine auf staatliche Fürsorge angewiesen. Jedes dritte der besonders vernachlässigten Kinder von Kauai wuchs somit zu einem selbstbewussten, fürsorglichen und leistungsfähigen Erwachsenen heran, der im Beruf Erfolg hatte und Beziehungen leben konnte.
So brachte Emmy Werner die bis dahin gängige These, wonach Kinder mit solchen Ausgangsbedingungen einem desaströsen Schicksal kaum entkommen können, ins Wanken. Die Psychologin stellte erstmals wissenschaftlich klar: Auch wenn die Startbedingungen noch so schlecht sind, gelingt es manchen Menschen, ihr Leben zu meistern.
Emmy Werner interessierte, welche Faktoren Menschen gegen Widrigkeiten im Leben schützen. Was genau, fragte sie sich, bewahrte manche der Kinder von Kauai vor seelischen Problemen und dem Absturz in die Verwahrlosung?
Das sei nicht nur für die Medizin und die Psychologie eine grundlegende Frage, betont der Heilpädagoge Michael Fingerle, sondern auch für die Pädagogik: »Lange hat uns nur gekümmert, warum Menschen im Leben nicht zurechtkommen«, sagt er. »Dabei ist es für alle Erziehung grundlegend zu wissen, wie ein gutes Leben gelingen kann.« Dazu aber mussten die Forscher zunächst festlegen, was denn ein gutes Leben überhaupt ist. Trotz ihrer Pionierarbeit war Emmy Werner in diesem Punkt doch ein Kind ihrer Zeit. Ein gutes Leben machte sie in ihrer 1958 begonnenen Studie vornehmlich an äußeren Faktoren fest, an leicht messbaren Erfolgen.
Sie fragte nach den Schulabschlüssen der Kinder von Kauai und nach ihrer beruflichen Ausbildung. Sie hielt fest, ob diese straffällig wurden und ob sie in der Lage waren, Ehen einzugehen, die länger als nur ein paar Jahre hielten. Schließlicherfasste sie noch, ob die jungen Leute psychische Störungen entwickelten.
Fingerle kritisiert, dass dies eine sehr konservative, normenorientierte Sicht auf das Leben der Menschen sei. »Eigentlich sollte Wissenschaft wertfrei sein«, meint er. Wichtig wäre es, die Betroffenen selbst zu fragen, ob sie zufrieden mit sich sind. Denn darum gehe es im Leben doch noch mehr als um einen festen Job und eine Ehe mit zwei Kindern: dass ein Mensch trotz schwerster Krisen, die ihn ereilen,
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