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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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erwachte aus seiner Träumerei und warf ihr einen Blick zu. Obwohl sich sein Ausdruck nicht veränderte, spürte Naif die süße Wärme, die von ihm ausging und ihren ganzen Körper erfasste. Aus irgendeinem Grunde schien ihn ihre Anwesenheit zu freuen.
    »Komm näher, Fledermäuschen«, sagte er. »Ich freue mich, dass dieses Kleid … so ist, wie es ist. Bitte gesell dich zu mir.«
    Er streckte ihr die Hand hin und sah sie aufmerksam an, als sie auf ihn zuging.
    Auf unsicheren Beinen durchquerte sie den Balkon. Sie hatte nicht erwartet, ihn so bald wiederzusehen. Und nicht unter diesen Umständen.
    Lenoir schien es nicht eilig zu haben, ein Gespräch zu beginnen. Als er es schließlich doch tat, war seine Stimme nur ein Flüstern. »Ich nahm an, dass es dir gefallen könnte, einen Blick von hier oben herunterzuwerfen, bevor du zu deiner Party gehst.«
    Naif spähte in die Tiefe. Agios war ganz anders als die anderen Kirchen, die sie kannte. Hier gab es weder karges Mobiliar, schwere Holzbalken oder von Kreuzen verdunkelte Alkoven noch bunten Kitsch und primitive Statuetten. Beim Anblick des Marmors, der im Kerzenlicht schimmerte und mit goldenen Intarsien verziert war und vor dem die Jagdszenen und Festmähler auf den prächtigen Satinwandteppichen fast lebendig wirkten, fühlte sich Naif an den Mythologieunterricht erinnert und an die unglaubliche Marmorstadt von Marsoucee.
    »Was meinst du damit … meine Party?«, fragte sie.
    »Als wir uns verbunden haben, erfuhr ich viel über deine Wünsche. Du sehnst dich danach, dich zu amüsieren, weißt aber nicht wie.«
    Sprachlos starrte sie ihn an.
    »Ich habe etwas für dich.« Mit geschickten Fingern schob er ein Edelsteinarmband über ihr Handgelenk – Jaspis, dunkelrot und kühl.
    »Wunderschön«, sagte sie leise.
    »So wie du, Fledermäuschen.«
    Naif wurde die Kehle eng. Lenoirs Kompliment war – wie sein Geschenk – unerwartet und unaufrichtig. Weder hatte sie die satte, kühle Schönheit des Armbands, noch wollte sie sie haben. »Nein, das glaube ich nicht.« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Und du auch nicht.«
    Darüber lachte er. »Nein. Du schmeckst viel besser als alte Edelsteine. Und ich sollte es wissen.«
    Naif nahm das Armband ab und gab es ihm wieder. »Ich verdanke dir mein Leben, Lenoir. Wir haben ein Band, das uns verbindet. Aber bitte … schenk mir nichts.«
    Sein Gesicht wurde steinern. »Versuchst du mir Anweisungen zu erteilen, so wie Brand?«
    »Brand?« Vor Ärger stockte Naif der Atem. »Wie kannst du mich mit ihr vergleichen?«
    Er seufzte, und sein Ärger war so schnell verflogen, wie er gekommen war. Wieder erschien der besorgte Ausdruck in seinen Augen. »Brand möchte Jagd auf Ruzalia machen. Sie hat eine außerordentliche Sitzung der Wächter einberufen. Wir werden in zwei Wechseln abstimmen.«
    »Ist das so üblich? Ich meine, dass ihr abstimmt.«
    Er presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und machte jetzt ein so wütendes Gesicht, dass sie Angst hatte, er würde die Beherrschung verlieren. »Wir haben noch nie abgestimmt. Nicht, seitdem ich hier das Sagen habe.«
    »Wie lange ist das schon her?«
    Er nahm ihre Finger in den Spitzenhandschuhen in die seinen und drehte ihre Hand herum, um über die nackte Innenfläche zu fahren, als würde er etwas zeichnen.
    »Seitdem wir hierhergekommen sind.«
    Naif runzelte die Stirn, ließ ihm aber ihre Hand, in der Hoffnung, er würde noch mehr sagen. »Das verstehe ich nicht. Wie seid ihr denn hergekommen?«
    Obwohl sie in beiläufigem Ton und ohne Nachdruck gesprochen hatte, ließ er ihre Hand augenblicklich fallen. »Für jemanden, der in seinem Leben bisher nur wenige Unterhaltungen geführt hat, bringst du einen viel zu leicht zum Plaudern, Naif. Das muss ich mir merken.«
    Sofort vermisste sie die Wärme seiner Hand auf ihrer und den Kontakt seiner Haut.
    »Genieß die Party. Sie gilt doch dir. Lerne, dich zu vergnügen.« Er wandte das Gesicht ab. Offenbar war sie nun entlassen.
    Test war auf einmal neben ihr, als hätte sie dort schon die ganze Zeit gestanden.
    »Hier entlang, Fledermäuschen.«
    »Bitte nenn mich nicht so«, sagte sie, als sie Test die Treppe hinunter folgte.
    Die Riper-Frau blieb auf der letzten Stufe stehen. Sie legte den Kopf auf die Seite und verzog das Gesicht zu einem kalten Grinsen.
    »Natürlich. Wenn du das befiehlst.«
    Naif fragte sich, ob Test tatsächlich hinter Lenoir stand. Ihre verächtliche Art erinnerte sie eher an Brand.
    Test

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