Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
fassen.«
»Markes? Der Gitarrist?«
»Ja. Du musst entscheiden, was du tun willst, bevor sie dich holen kommen.«
»Was entscheiden?« Charlonge trat von der Balustrade weg und ging ein paar Schritte auf und ab.
»Ob du Joel trauen und fliehen willst. Oder ob du dich von den Ripern benutzen lässt. Lenoir sagt, wenn wir abgezogen werden, kommen wir an einen besseren Ort.«
Charlonge drehte sich zu ihr um. »Und wem glaubst du?«
»Ich weiß es nicht. Ehrlich. Du solltest mal mit Joel reden.«
»Was hat Lenoir genau gesagt?«
»Lenoir sagt, der Abzug ist der nächste Schritt in unserer Entwicklung hin zu Wesen, die sich ganz dem Vergnügen hingeben, aber …«
Charlonge zitterte. »Ich muss nachdenken. Und du solltest gehen und deine Freunde suchen. Sie schmieden schon Pläne, um dich zu befreien.« Sie trat zur Tür und schloss sie auf.
»Weißt du, wo sie sind?«
»In Agios findet eine Party statt. Alle reden darüber, aber nur wenige wurden eingeladen.«
»Eingeladen?«
Charlonge schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Ja. Sieh mal in deinem Fach im neglegere nach.«
Im neglegere fand Naif tatsächlich ein neues Kleidungsstück. In ihrem Schrank lag ein schwarzes Brokatkleid, steif, wunderschön und mit Hunderten von glänzenden Steinen bestickt. Als sie es herausnahm, fielen ein Paar Spitzenhandschuhe und eine Karte mit Goldrand heraus.
»Wow! Oh, zieh es an«, sagte ein Mädchen, das vor dem benachbarten Schrank stand. Das Mädchen ähnelte Suki ein bisschen, doch es war größer und hatte honigblonde Haare und volle Lippen. Sie trug einen kirschroten Minirock mit hohen Stiefeln und ein Top mit Samtsaum.
Naif schlüpfte aus dem schlichten Seidenkleid, das sie sich in Goa ausgesucht hatte, ohne sich wie zuvor allzu sehr um Schicklichkeit zu scheren. Es war nicht leicht, in den Brokatstoff hineinzukommen; sie musste sich winden, daran ziehen und das Mädchen bitten, die Bänder am Rücken zu schnüren. Doch schließlich saß alles dort, wo es sein sollte. Das enge Oberteil reichte ihr nur knapp über die Brust und von der Taille ab fiel weiche, bauschige Spitze bis auf den Steinboden hinunter.
»Du siehst wie eine Braut aus«, sagte das Mädchen. Dann kicherte sie.
Naifs Herz setzte einen Schlag lang aus. Wessen Braut?
»Du gehst bestimmt zu der Party in Agios. Das wird toll. Dieser neue Musiker spielt da, der große, superhübsche, den alle so gut finden. Ich glaube, sein Name ist Markes.«
Naif nahm die Einladungskarte. »G-gehst du hin?«, fragte sie.
Das Mädchen machte einen Schmollmund. »Da ist Gesellschaftskleidung vorgeschrieben, und ich habe in meinem Schrank keine Einladung oder irgendwas Ähnliches gefunden.«
Naif hielt ihr die Karte hin. »Willst du meine haben? Und das Kleid.«
Das Mädchen staunte mit offenem Mund. »Du würdest es mir überlassen?«
Naif zuckte mit den Schultern. »Ich kann doch das da tragen.« Sie zeigte auf das Etuikleid aus Goa, das auf dem Boden lag. »Aber ich warne dich, das Kleid ist nicht sehr bequem.«
»Bist du nicht die, die diese narbige Riper-Frau mit einem Stuhl geschlagen hat?«
Nach einem Moment des Zögerns nickte Naif. Ihr Ruf eilte ihr offenbar voraus. Vielleicht sollte sie sich einfach damit abfinden. »Aber ich habe einen neuen Namen angenommen. Jetzt heiße ich Naif. Ich bin keine Seal mehr.«
»Die meisten nehmen einen neuen Namen an, wenn sie hierherkommen. Naif gefällt mir. Das ist hübsch. Ich bin Geen. Und danke für das Angebot, aber das Kleid würde mir nicht passen. Du bist kleiner als ich.«
Sie ging zur Tür des neglegere . Ihre Stiefel klackten auf dem Steinboden. »Viel Spaß auf der Party. Vielleicht sieht man sich ja noch.«
21
Naif nahm eine Gondel den Berg hinauf nach Agios. Bei jedem Halt stiegen aufgeregte Partygäste ein, die Jungen in Abendanzügen, manche mit weißen Jacken und Fracks, die Mädchen in langen Kleidern aus rotem Samt oder eng anliegender Seide.
Naif raffte den Saum ihres Kleides und legte den Stoff auf den Platz neben sich, damit niemand auf die Idee käme, sich zu ihr zu setzen. Dann starrte sie aus dem Fenster und versuchte auszumachen, was da im Zwielicht leuchtete: Vank und Illi weiter unten, Agios und Los Fien über ihnen, die Lichttupfer der Clubs und die Lichterketten der Wege, die sich aufeinander zu wanden, und von denen dann wieder die schwach glitzernden Bänder der Seitenpfade abzweigten.
Wie die Blutbahnen aus Venen und Arterien, dachte Naif, und beim Anblick der schwächeren
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