Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
gestanden hatte, kam es ihr vor, als wären schon ganze Tage vergangen. Würden sie die Veränderung an ihr bemerken?
Sie konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Also nahm sie die Gondel, doch schon im Club Abraxas begann ihr Chip zu schimmern, und als sie im Bella Death ankam, war er längst heiß und drückte. Die Angst vor einem Zusammenbruch trieb sie nach Goa, das ganz in der Nähe lag.
Die Kirche von Goa war pure Dekadenz: von den zahlreichen Behelfsaltären, die mit knallbunten, fransigen Seidenstoffen, angemalten Statuetten und hässlichen Puppen geschmückt waren, bis zu den Tausenden von Spiegeln und Wandgemälden von nackten Schlemmenden. Vielleicht war Rollos Geschichte von den Provinzen, die sich wegen Ixion bekriegt hatten, ja wahr. Goa und Vank konnten unmöglich von demselben Volk erbaut worden sein. Goa war eine Kultstätte, doch sie hatte nichts Heiliges.
Sie hielt ihre petite nuit in einem unaufgeräumten Zimmer gleich neben der Apsis, in dem die Schlafenden dicht an dicht lagen. Sobald sie ausgeruht war, machte sie sich in den Speiseraum auf. Die Servierplatten waren ohne erkennbare Ordnung verteilt und die weißen Leinentücher auf den Tischen voller Flecke. Nirgendwo herrschte die Ordnung, Sauberkeit und Kontrolle wie in Vank. Sie suchte nach den Uthern, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Vielleicht kamen sie ja nicht hierher.
Nachdem sie ihr Essen heruntergeschlungen hatte, ging sie sich waschen und umziehen. Als sie in das neglegere von Goa trat, näherte sich ihr ein Mädchen.
»Bist du die Seal, die die Chosen gründet?«
»Nein. Mein Name ist Naif, und ich bin keine Seal.«
»Schade.« Das Mädchen schien enttäuscht zu sein. »Alle suchen nach ihr.«
»Wer ist alle?«
»So ein Rothaariger und ein Mädchen aus Stra’ha. Und die Wings, die Freeks und die League. Anscheinend haben die Riper sie mitgenommen, und jetzt gibt es ein Riesendrama. Man spricht darüber, sie zu retten.«
Naifs Magen zog sich zusammen. Sie musste Rollo und Suki finden, bevor sie eine Dummheit begingen.
Eilig verließ sie Goa, um sich auf den Weg nach Vank zu machen, wo sie zwar Rollo und Suki nirgendwo sah, dafür aber Charlonge, die bei einem Uther neben einer Heizplatte stand und die Mahlzeit überwachte.
Als Naif zwischen den schweren, polierten Tischen hindurchging, verstummte das Gemurmel und Geklapper, das bis dahin im Speisesaal geherrscht hatte.
»Wo bist du gewesen?« Charlonge packte sie am Ellbogen, als sie nah genug war. »Komm mit.«
Naif ließ sich von ihr auf die Galerie hinaufziehen.
Das ältere Mädchen zog die Tür hinter ihnen zu und schloss ab. Dann stellte sie sich vor die Balustrade des Balkons. Sie wirkte nervös. »Alle reden über dich. Ist es wahr, dass die Riper dich mitgenommen haben? Was ist passiert?« Sie rang so unruhig die Hände, dass Naif sie am liebsten gepackt und festgehalten hätte.
»Char, du wirst bald abgezogen.«
Für einen Augenblick schwieg Charlonge. »Wie kannst du das wissen?« Sie klang zwar ärgerlich, aber nicht ängstlich.
»Lenoir hat es mir gesagt.« Naif hoffte, dass man im Dämmerlicht der Galerie nicht sah, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg.
»Seit wann redest du über so etwas mit dem Anführer der Wächter?«
»Brand hat versucht … Nein, sie hat mir etwas angetan. Lenoir verfügt über Heilkräfte, und ich hatte stark geblutet …«
»Du hast geblutet?«
Ohne die Scham, die sie noch als Retra empfunden hätte, hob Naif den Rock an, um die verheilende Wunde an ihrem Oberschenkel zu zeigen.
»Bei den Heiligen von Lidol, was ist das?«, keuchte Charlonge.
»Als Joel aus Grave flüchtete, befestigten die Aufseher einen Gehorsamkeitsstreifen auf meinem Oberschenkel, damit ich die Anlage nicht verlassen konnte. Um zu entkommen, musste ich lernen, den Schmerz auszuhalten. Brand hat versucht … sie hat mich mitgenommen … und hat ihn gefunden. Und herausgeschnitten.« Trotz ihres neuen Selbstbewusstseins fiel es ihr schwer, das alles laut auszusprechen.
»Rausgeschnitten!«, rief Charlonge. »Hat sie die Stelle wenigstens vorher betäubt?«
Naif schüttelte den Kopf. Sie strich den Rock herunter und wollte nicht mehr daran denken. Die Erinnerung daran war noch zu schmerzhaft. »Es ist dabei zu heilen. Als ich bei der Sitzung des Jugendkomitees war, bevor Brand mich mitnahm, haben die Riper von dir gesprochen. Sie sagten, deine Zeit wäre vorbei, und dass sie dich und Markes als Köder benutzen wollten, um Ruzalia zu
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