Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
Vom Netzwerk:
dass er mir nichts zuleide …«
    Er kniff ihr in die Haut und ließ los. »Doch. Das hätte er.«
    Es lag etwas so Überzeugendes in seinem Ton, dass sie nicht widersprach.
    Er beugte sich zu ihr, bis sein Mund den Kratzer über ihren Lippen gefunden hatte. Dann leckte er sanft darüber, so wie er es schon einmal getan hatte: wie eine Katze ihr Junges.
    Naif war, als löse sich ihr Körper auf. Sie spürte nichts mehr, außer den Druck seiner Zunge und das Kitzeln ihrer Nässe. Einem Instinkt gehorchend rutschte sie höher, bis ihre Lippen auf einer Höhe mit seinen waren. Sie drückte sich fest an ihn. Ganz natürlich öffneten sich ihre Lippen, und ihre Zunge fand den Weg zu seiner. Erst schmeckte er salzig und ein wenig nach ihrem Blut, doch dann nach etwas anderem. Sie brauchte mehr von dieser Feuchte, wollte mehr von diesem besonderen Geschmack schmecken.
    Seine Hände schlossen sich fest um ihren Oberarm und hoben sie auf seinen Schoß. Jedes Mal wenn sie sanft an seiner Zunge saugte, drückte er sie fester, so als wollte er sie zu einem winzigen Stück zusammenpressen.
    Dann kamen die Empfindungen, die die Pastille zunächst betäubt hatte, mit solcher Wucht zurück, dass ihr war, als lägen ihre sämtlichen Nerven bloß. Sie wollte schreien, vor Glück und vor Schmerz zugleich.
    Lenoirs Zähne schlossen sich um ihre Zunge und kratzten darüber, bis sie sich ihm entgegenbog.
    Ein Knurren drang aus seiner Brust. Er schob sie weg, sodass sie sein Gesicht sah. Es war so verzerrt, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Seine Wangen schienen voller geworden zu sein, sodass die Knochen darunter nicht mehr zu erkennen waren und seine Stirn runder wirkte. Die Lippen hatte er hochgezogen, das glänzende Zahnfleisch entblößt.
    »Lenoir«, keuchte sie.
    Er stieß sie auf die Bank zurück und flüchtete aus dem Wagen.
    Sie versuchte gar nicht erst, ihm zu folgen. Sie konnte nicht. Sie lag nur da, auf dieser Bank, und wollte sich sammeln. Was hatte sie da gerade gesehen? War sein Gesicht wirklich so verzerrt gewesen? War das Wesen Leyste tatsächlich so gefährlich, wie Lenoir behauptet hatte? Warum wollte Joel nicht auf sie hören? Ihre Gedanken jagten sich im Kreis.
    »Retra?« Charlonge spähte besorgt durch die Tür. »Was tust du in Lenoirs Wagen? Was ist passiert? Er kam in die Kirche gestürmt und sagte mir, ich sollte herkommen und mich um dich kümmern. Ich habe ihn noch nie … aufgeregt erlebt.«
    Naif hatte Mühe, den vielen Fragen zu folgen – sie hatte selber so viele, und ihr Knöchel pochte im Rhythmus des Pulses an ihrer Schläfe.
    »Ich heiße jetzt Naif«, flüsterte sie. »Und ich glaube, ich bin am Bein verletzt.«
    »Naif? Ist das nicht der Name, den ich für dich ausgesucht hatte?«
    »Ja.«
    Charlonge nickte wohlwollend, dann musterte sie ihre zerrissenen Kleider, und ihre Augen wurden groß. »Du meinst Beine, Arme, Bauch … Lass uns hineingehen. Du kannst mir später noch erzählen, was passiert ist. Hat dir Lenoir irgendetwas gegen die Schmerzen gegeben?«
    »Pastille«, krächzte Naif.
    »Eine ganze?«
    Sie nickte.
    »Nun, das erklärt, warum du so benommen bist.«
    Nein , dachte Naif. Das ist es nicht allein .
    Charlonge stützte sie bis in die Kirche. Der Wagen hatte gleich neben einer niedrigen Terrasse gehalten, sodass es nur noch wenige Schritte bis zur Tür und aus den Fängen der Dunkelheit waren.
    Naif glaubte zu sehen, wie der Wagen mit einem Ruck in die Höhe und auf lange Spinnenbeine kam und verschwand. Doch sicher konnte sie sich nicht sein, denn auf einmal schien alles seltsam verschwommen zu sein.
    Selbst Charlonge …
    Als die petite nuit vorbei und ihr Kopf wieder klar war, fand sie sich erneut in Charlonges Bett, unter einer roten Seidendecke. Charlonge saß an ihrem schwarzen Sekretär und las in einem großen Buch. Das Knistern des steifen Papiers und der muffige Geruch, der jedes Mal entströmte, wenn eine Seite umgeblättert wurde, sagten Naif, dass es alt sein musste.
    »Wo kommen die Bücher her?«, fragte sie leise, um das ältere Mädchen nicht zu erschrecken.
    Charlonge legte das Buch aus den Händen. Sie schien erleichtert zu sein, dass Naif wieder so sprach wie gewohnt. »In jeder Kirche gibt es eine Bibliothek.«
    »Was liest du?« Auf einmal verspürte Naif den Drang, es anzufassen. Die Bibliothek in Seal Süd war für sie ein Ort des Trostes, aber auch der Enttäuschung gewesen, denn sie hatte nur etwas über religiöse Themen und Etikette und Anstand lesen

Weitere Kostenlose Bücher