Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
Gesicht … so entsetzlich. Durch und durch bestialisch.
Mitleid verdrängte ein wenig ihre Angst. Instinktiv streckte sie die Hand aus und legte sie an sein Gesicht.
Das Wesen wurde ganz still, als wäre es erschrocken.
Mit zitterndem Finger fuhr sie über die Kontur seiner vorspringenden Stirn. Die Haut fühlte sich glitschig an, weil sie mit einer Schicht Schleim bedeckt war, und das Fleisch darunter federte zurück wie Schaumstoff.
Das Wesen neigte den Kopf nach vorn, damit sie es besser erreichen konnte.
Als Naif ihm sanft über die Stirn rieb, gab es ein leises wohliges Grunzen von sich.
So blieben sie, bis ihr Arm wehtat und sein Gewicht auf ihrer Brust nicht mehr auszuhalten war. »Ich muss … mich aufsetzen«, flüsterte sie.
Das Wesen legte den Kopf schief, als wollte es nachdenken. Dann rutschte es etwas tiefer, sodass der Druck auf ihre Lunge geringer wurde.
Liegend schnappte sie nach Luft. Aber als sie sich aufzusetzen versuchte, wurde sein Körper starr, und mit einer schnellen Bewegung sprang es auf die Klauen, die ihren Körper packten, um nicht herunterzufallen. Das plötzliche Gewicht drückte wieder die Luft aus ihrer Lunge, dann wurde ihr schwindlig.
Sie versuchte sich herumzurollen und zu Atem zu kommen, aber es war zu wendig und änderte nur seine Stellung. Sie griff nach seinen Knöcheln, um es wegzuschieben, doch ihre Hände rutschten an ihrem eigenen Blut ab.
»Naif!«
Sie hörte den eigenen Namen in ihrem Kopf wie einen durchdringenden, verzweifelten Schrei. Und dann war die Bestie plötzlich fort, während ein anderes starkes Wesen es von ihr herunterstieß.
»Nein!« Mit Mühe gelang es Naif, sich aufzusetzen, während die beiden Gewalten neben ihr miteinander rangen. »Lenoir! Hör auf!«
Das Wesen kreischte – zuerst aus Wut und dann vor Schmerz. Die Körper schlugen gegeneinander, stürzten zu Boden, und dann vernahm Naif nur noch das schreckliche Knacken brechender Knochen.
Der Pfad begann wieder zu leuchten. Sie konnte ihn sehen, nur eine Körperlänge entfernt. Die ganze Zeit war sie gar nicht weit weg gewesen, nur ein paar Schritte.
Mit den Zähnen knirschend robbte sie darauf zu, das Pieken der Dornen und spitzen Zweige ignorierend, bis sie den glatten Kiesbelag unter sich spürte.
Ihre Finger fassten die harten Steine an, und Tränen der Erleichterung rannen ihr über das Gesicht. Sie kroch weiter den Pfad entlang bis zur Kante der Felswand. Dahinter war Agios. Sie musste nur rufen, sie musste nur …
Aber als sie an der Wand ankam, erschien Lenoir plötzlich vor ihr, das seidig lange Haar strähnig und nass von Blut, ohne Mantel.
»Bist du verletzt?« Er sah auf sie herunter.
Sie versuchte sich aufzusetzen. »Ich glaube nicht … dass es mir … etwas tun wollte. Es wollte … gestreichelt werden.« Ihre trockene Zunge hatte Mühe, die Worte zu formen.
Lenoir fiel auf die Knie und zog sie in seine Arme. »Es hätte dich getötet, Naif.«
Naif schluckte und versuchte sich die Lippen zu lecken. »W-warum sagst du das?«
Er starrte in die Dunkelheit hinaus. »Leyste ist dir gefolgt, seitdem du die Aufnahme passiert hattest.«
»Leyste? Diesen Namen hast du schon mal erwähnt. Wer ist Leyste?«
»Leyste ist ein Nachtwesen, das eine Vorliebe für Neuankömmlinge hat. Doch dies ist das erste Mal, dass er jemandem nachgestellt hat.«
Nachgestellt. »Ja. Er hat mit mir gesprochen, als ich aus der Aufnahme kam. Und dann noch ein paarmal. Aber ich war immer die Einzige, die ihn hören konnte.«
»Die Nachtwesen besitzen zwar unsere Fähigkeit, den Ton gezielt zu schicken. Doch dass sie Worte benutzen, ist ungewöhnlich.«
Naif fiel ein, dass sich Lenoirs Stimme immer so nah angehört hatte, wenn er zu einer Menge sprach. »W-wie viele von diesen W-gibt gibt d-da draußen?«
Lenoir hob sie hoch, als würde sie nichts wiegen, und trug sie den Pfad zurück. »Viele und in vielerlei Gestalt.«
Danach sah er sie nicht mehr an und sagte auch nichts.
Während sie hinauf nach Agios stiegen, ließ die Wirkung des Adrenalins in Naifs Körper nach, und der Schmerz kehrte zurück. Ihr Knöchel pochte, und die Schnitte und Kratzer auf ihrer Haut brannten. Sie presste die Lippen aufeinander, um nicht zu stöhnen.
Die Musik wurde lauter – eine schnelle, misstönende Melodie, die nicht von Markes stammte –, und Lenoirs Arme schlossen sich unwillkürlich fester um sie. »Was tust du hier draußen, Naif?«
Sie bemühte sich nachzudenken, bevor sie antwortete. Trotz
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