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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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hat?«
    »Natürlich«, sagte Naif heftig. »Und weißt du, wie ich mich gefühlt habe, als du gingst? Du hattest mich ja nicht einmal vorgewarnt.«
    »Das durfte ich doch nicht«, protestierte er. »So war es für dich sicherer.«
    » Sicherer! Hast du überhaupt jemals daran gedacht , wie es danach für uns sein würde? Vater hat mich jeden Tag für das, was du getan hast, bestraft, und Mutter hat geweint. Sie hat ständig nur geweint.« Naif spürte, wie die Wut zurückkehrte. Sie wollte ihren Bruder anschreien.
    So böse war sie noch nie auf ihn gewesen. So benahmen sich Seals nicht. Aber sie war keine Seal mehr. Das hatte Lenoir geändert. Und Lottie alles andere. »Dann sind die Aufseher gekommen und haben ihre Elektroaugen in meinem Zimmer angebracht. Sie haben mir zugesehen, wenn ich gebadet habe und … Joel, sie haben mich bei allem beobachtet. Und wenn ich versucht habe, die Anlage zu verlassen … der Schmerz.« Unwillkürlich fasste sie sich an die Wunde am Oberschenkel.
    Sein Schweigen bedeutete vielleicht, dass er sich schuldig fühlte. Oder dass es ihm gleichgültig war. Naif konnte es nicht sagen, nicht ohne sein Gesicht zu sehen. Und sie sehnte sich danach. »Joel? Bitte …«
    »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Auf Wiedersehen, Ret.«
    »Mein Name ist Naif«, erwiderte sie.
    Nichts. Kein Rascheln von Büschen, kein Scharren auf Kies. Aber sie wusste, dass er fort war.
    »Joel, warte!« Sie lief den Pfad hinunter, ihm nach. »Bitte komm zurück.«
    Aber als sie wieder stehen blieb, um zu lauschen, hörte sie nichts als die leisen Klänge der Musik in Agios, und dann ein Krabbelgeräusch.
    Sie fuhr herum und sah im Augenwinkel eine dunkle Gestalt davonhuschen. Nicht Joel. Er würde sie nie so zu ängstigen versuchen.
    Wo war Agios? Sie konnte die Kirche nicht mehr sehen. In ihrer Hast war sie um eine breite Felswand herumgelaufen, die ihr nun die Sicht zurück versperrte.
    Folge einfach dem Pfad zurück , sagte sie sich.
    Aber der Pfad, der gerade noch so gut beleuchtet gewesen war, erschien ihr nun so düster, dass sie kaum einen Schritt voraussehen konnte. Naif ging den Weg, den sie gekommen war, zurück, aber die nackte Erde hörte irgendwann auf und ihre Füße verfingen sich im Gestrüpp.
    Blind starrte sie ins Dunkel, konnte aber nur die Umrisse tief stehender Büsche erkennen und, ein Stück weiter den Berg hinunter, das glitzernde Netz der Gondelkabel.
    Hier, fern von dem durchdringenden moschusartigen Geruch, der in der Kirche herrschte, roch die Finsternis gefährlich und schien ihr wie elektrisch aufgeladen, so als hätte dort, wo sie gerade stand, der Blitz eingeschlagen. Aber in Ixion gab es keine Gewitter, nur die ständige, prickelnde Hitze.
    Wieder hörte Naif das Krabbeln, lediglich ein paar Meter vor ihr entfernt. Und links von ihr. Dann hinter ihr. Etwas umkreiste sie, vielleicht waren es auch mehrere. Vor Furcht zog sich ihr Magen zusammen. Modai hatte sie gewarnt. Test hatte sie gewarnt. Weiche nie vom Weg ab.
    Am liebsten wäre sie davongerannt. Doch sie wusste nicht, in welche Richtung.
    Ein Schnüffeln und dann ein Quietschen; ein langer Schwanz peitschte aus den Büschen. Er zerriss den zarten Stoff ihres Kleides, und kleine Widerhaken bohrten sich in ihren Knöchelknochen.
    Sie stürzte, und der Schwanz zog an ihr, sodass sich die Haken tiefer in den Knochen rissen. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, der an- und abschwellende Schmerz gewann die Oberhand.
    Sie stöhnte und wand sich, doch der Schmerz wurde nur noch schlimmer. Dornenzweige kratzten über ihr Gesicht und wickelten sich um ihre Arme, während es sie tiefer ins Gebüsch zog.
    Dann, so plötzlich, wie es angegriffen hatte, ließ das Wesen ihren Knöchel wieder los. Der Schmerz hörte auf, und eine ungeheure Erleichterung überkam sie. Doch das Hochgefühl war bald wieder vorbei, als es sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihre Beine warf und an ihrem blutenden Knöchel saugte.
    Sie versuchte sich zu befreien, doch das Wesen hielt dagegen und schob sich schnüffelnd und knabbernd ihren Körper hoch, bis es auf ihrer Brust saß. Es berührte ihr Haar, spielte mit ein paar Strähnen und zupfte daran.
    Sehe dich. Folge dir. Will dich .
    Naif zwang sich, die Augen zu öffnen, um es anzusehen: glatte Haut, ein kleiner, fast menschlich geformter Oberkörper. Doch aus seinem Unterkörper wuchsen plumpe Glieder mit Klauen, und aus seinen Schultern wanden sich Tentakel. Oder waren das missgebildete Flügel?
    Und sein

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