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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne de Pierres
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ihres Ärgers auf Joel würde sie ihren Bruder niemals verraten, an niemanden. Aber Lenoir war schlau – und sie im Lügen nicht geübt.
    »Ich bin nach draußen gegangen, um mit Markes zu sprechen – dem Musiker. Wir … haben uns gestritten, da bin ich weggelaufen. Als ich um den Felsen herumging, verlor ich Agios aus den Augen. Und dann wurde das Licht des Pfades schwächer.«
    »Leyste.« Er sagte den Namen grimmig, fast so, als wäre er böse auf sich selbst. »Er hat einen Weg gefunden, die Lichtschaltrelais zu manipulieren. Ich hätte nicht gedacht, dass er oder überhaupt irgendeiner von ihnen die notwendige Intelligenz besitzt. Es sei denn …«
    Naif hob den Kopf von seiner Brust. Sie waren bei der Seitentür angekommen, die sie und Markes benutzt hatten, aber Lenoir ging daran vorbei, an der hohen Steinwand entlang, zur Rückseite der Kirche.
    »So wie wir aussehen, können wir in Agios nicht erscheinen. Ich bringe dich am besten nach Vank. Charlonge wird deine Wunden reinigen.«
    »Du glaubst wohl, Graselle hätte genug von mir?« Naif stieß ein leises, bitteres Lachen aus.
    »Im Dominium ist es nicht sicher, solange die Abstimmung …« Er brach mitten im Satz ab, als sie um die Ecke der Kirche kamen.
    Eine achteckige Kabine aus mattem Metall, halb so groß wie eine Gondel und vom Licht der eigenen Scheinwerfer beleuchtet, stand allein auf einem Stück ebenen Bodens. Dagegen lehnte Test mit gerunzelter Stirn. Als sie Lenoir sah, richtete sie sich auf und öffnete an der Seite der Kabine eine Tür.
    Dann trat sie zurück, mit verschränkten Armen, die Beine leicht gegrätscht. Ihre ganze Haltung drückte Missbilligung aus.
    Lenoir beachtete Test überhaupt nicht, sondern hob Naif in die Kabine, um sie auf einer weich gepolsterten Bank abzulegen. Anschließend stieg auch er ein.
    Erinnerungen kamen wie in einer Welle: die Kupferbeschläge im Innenraum, der schwere Duft der Ledersitze – dann vielleicht die Erinnerung an eine der Pferdekutschen der Ältesten in Grave. Sie war darin mit ihrem Vater zu den Bewährungsanhörungen gefahren. Sein Ärger war wie das Gitter eines Priesters zwischen ihnen gewesen, und ihr Hemd noch nass von den Tränen ihrer Mutter.
    Ein plötzlicher Ruck zwang sie, sich an der Bank festzuhalten.
    »Der Wagen klappt nur die Beine aus. Gleich wirst du nichts mehr spüren«, sagte Lenoir.
    Naif klammerte sich fest, bis das Schaukeln aufhörte.
    Nach einigen Blicken aus dem Fenster ließ sie sich beruhigt auf die Bank zurücksinken, schloss die Augen und ließ sich an einen Ort treiben, wo es weder Denken noch Tun gab, an einen Zwischenort des Nichts – fort vom Schmerz.
    »Naif!« Mit einem unsanften Rütteln weckte Lenoir sie aus petite nuit . »Nimm das, sonst schadet dir der Schmerz.« Er drückte ihr eine Pastille in die Hand.
    Sie dachte an das, was ihr Graselle über den Heilungsprozess gesagt hatte, und widersprach nicht. Sie kaute sie gründlich und wartete auf die Wirkung.
    Kurz darauf kroch Schwere in ihre Glieder und betäubte alles einschließlich ihrer Zurückhaltung. Sie fühlte sich benommen, allerdings auf eine angenehme Weise.
    Sie warf Lenoir einen Seitenblick zu. Er starrte düster aus dem Fenster, die Lippen geschürzt. Sein schönes Haar war von dunklem Blut ganz stumpf.
    Sie hätte ihn gern nach Leyste gefragt, doch stattdessen kamen andere Worte aus ihrem Mund. »Warum wurde die Party für mich ausgerichtet? Das hast du gesagt, als wir auf der Galerie waren«, fügte sie hinzu.
    Lenoir sah sie nicht an. »Wenn die Abstimmung zu meinen Ungunsten ausgeht, wird sich alles ändern. Dann werde ich nicht mehr die Freiheit haben, das zu tun, was ich will. Ich wollte aber, dass du siehst, wie schön Partys sein können, wie elegant.«
    Naif lächelte. »Das hat dann ja wohl nicht geklappt, was?«
    Wegwerfend zuckte er die Achseln. »Wir sind da.«
    Naif setzte sich aufrechter hin. Sie fragte sich, ob die Pastille ihre Sinne verwirrt haben mochte. »Wir sind doch nur ein paar Minuten unterwegs gewesen.«
    Jetzt wandte er sich ihr zu. Sein blutverschmiertes Gesicht war fast hässlich, und darauf lag ein seltsam verletzlicher Ausdruck. Ihn so zu sehen machte ihr Angst.
    Er streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus. Die Finger, die sich in Agios so heiß auf ihrer Haut angefühlt hatten, wirkten nun warm und beruhigend. Er knetete ihre Wange zwischen Daumen und Zeigefinger.
    »Ich dachte schon, Leyste hätte dich getötet, Fledermäuschen.«
    »I-ich glaube immer noch,

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