Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
widerstreitenden Gefühle, die in ihr kämpften. Und ihre Angst.
»Hast du entschieden, was du tun willst, Char?«, fragte Naif leise.
»Ja«, sagte sie endlich. »Ich komme mit dir.«
23
Der Sitzungsraum des Jugendkomitees war leer. Nur das Mädchen mit den langen Haaren und der gemalten Maske über den Augen war noch da und wanderte mit abwesendem Gesichtsausdruck um den Tisch herum, um an den schweren Stühlen zu ziehen oder den polierten Stein zu betasten.
»Jaime!«, rief Naif und trat auf den schmalen, aber länglichen Teppich. Charlonge hielt sich hinter ihr.
Das Mädchen zuckte zusammen und starrte sie an.
»Ich bin Naif. Wo findet die Abstimmung der Wächter statt?«
»Woher weißt du davon?« Das Mädchen kam näher. Die weichen Falten ihres Rocks raschelten leise, als verfinge sich der Stoff zwischen ihren Beinen und reibe gegeneinander. »Nur die Verbundenen wissen von …« Dann weiteten sich ihre Augen. »Du bist doch die, über die alle sprechen. Die, die Lenoir beschützt.«
Naif zögerte. Ihr gefiel Jaimes Anspielung zwar nicht, aber was sie sagte, stimmte schon. »Wo wird abgestimmt?«
Jaime zog einen Schmollmund und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er hat immer Zeit für mich gehabt, bevor du kamst. Jetzt streicht er mir nicht mal mehr übers Haar. Man sagt, er wäre besessen von dir.« Sie musterte Naif von oben bis unten. »Ich verstehe nicht, warum.«
Naif wurde rot – weil sie beleidigt worden war, aber auch wegen Lenoirs offensichtlicher Vorliebe für sie.
Wie selbstverständlich wollte sie auf das zurückgreifen, was sie als Seal gelernt hatte, doch es war nicht mehr da. Sie musste sich ganz auf ihr Gefühl verlassen, und das sagte ihr, dass sie sich stark zeigen musste. »Verrat mir, wo die Abstimmung stattfindet, oder ich lasse die Nachtwesen auf dich los.«
»Naif!«, rief Charlonge, die im Schatten stand.
Naif beachtete sie nicht. Sie hatte keine Zeit zu diskutieren, weder mit dem einen noch mit dem anderen Mädchen.
» Du kannst die Nachtwesen nicht kontrollieren. Das können nur die Wächter.« Jaime warf das lange Haar über die Schulter zurück, als wäre sie sich ihrer Sache sicher, doch Naif entging das leichte Beben in ihrer Stimme keineswegs.
»Sie werden kommen und dich holen, das verspreche ich dir«, flüsterte Naif, zog den Saum ihres Rockes hoch und zeigte ihren verletzten Knöchel. »Sie haben mir fast den Fuß abgerissen, bevor ich ihre Geheimnisse erfuhr. Jetzt kann ich mit ihnen sprechen – und ihnen, wenn ich will, Befehle geben. Stell dir mal vor, was sie da draußen zwischen den Dornenbüschen auf der nackten Erde mit deinen Haaren anstellen würden.«
Das Mädchen machte einen Schritt zurück. Sie deutete auf einen apsisähnlichen Alkoven auf der Rückseite der Höhle, die von einer einzelnen, an der Wand befestigten Kerze erhellt wurde. »Dort entlang. Aber ich weiß nicht, wo … Ich gehe nie da rein.«
Naif rannte durch die Höhle und hoffte, Charlonge käme ihr nach. Sie musste wissen, ob Lenoir überlebt hatte.
Die Tür in dem Alkoven führte in eine weitere Höhle mit brennenden Fackeln an den Wänden. Die Tunnel, die hiervon ausgingen, führten in so viele verschiedene Richtungen, dass sie ganz plötzlich stehen blieb.
Charlonge stieß gegen ihre Schulter. »Weißt du, wo du hinmusst? Wenn nicht, könnten wir uns verirren?«
»Pscht!«, machte Naif. »Hör doch!« Leise Gitarrenklänge wehten heran und hallten in der Höhle wider. »Markes. Aber wo lang?«
»Das Dominium besteht aus vielen konzentrischen Kreisen, die durch kurze Gänge miteinander verbunden sind«, erwiderte Charlonge.
Naif starrte sie an. »Woher weißt du das?«
»Das steht in den Büchern. Bevor die Riper hier gelebt haben, wurden die Höhlen von den Mönchen genutzt. Sie haben Zeichnungen davon angefertigt. Es ist wie ein Irrgarten.«
»Hast du die ganze Zeit schon darüber gelesen?«
»Ich wusste, dass meine Zeit bald käme. Ich wollte mehr wissen, bevor ich … gehe.«
Naif verspürte Erleichterung, dass Charlonge eigenständig gehandelt – gedacht – hatte. »Ich bin froh, dass du es getan hast«, sagte sie. »Wenn das Kreise sind, können wir uns nicht verirren.«
Auf einmal spürte Naif eine neue Zuversicht – wie eine feste Hand im Rücken. Sie nahm die Fackel aus ihrem Halter an der Wand. »Wir müssen nur der Musik folgen.«
Sie horchte und entschied sich für einen bestimmten Gang, immer den Klängen nach.
Charlonge folgte ihr schweigend,
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