Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
Sein Gesicht war blutverschmiert, und die Lippen sahen dick und geschwollen aus, so als wäre er geschlagen worden.
Der Raum stank nach Wut – ein scharfer, erstickender Geruch, der den Kreis der Riper wie unsichtbarer Rauch umwallte. Am liebsten hätte Naif mit den Armen gewedelt, um ihn zu vertreiben – damit sie wieder freier atmen konnte. Doch sie wagte nicht, sich zu bewegen.
Brand trat in die Mitte des Kreises. »Bevor wir mit der Abstimmung beginnen, muss ich noch etwas sagen.«
»Was ist es, Brand? Bitte einfach und ohne Umschweife, ich bitte dich wirklich, Brand«, sagte Varonessa. Sie stand auf halbem Wege zwischen Brand und Lenoir und war hier offensichtlich die Vermittlerin.
»Leyste ist tot. Ermordet von einem der Unseren.«
Der Kreis der Riper schien sich zu winden wie Aale in einem Netz. Aber es war Modai, der Naif einen Schrecken einjagte, als er auf die Knie fiel, seine Brust umklammerte, als stecke eine Klinge darin, und ein tiefes, gequältes Stöhnen ausstieß.
Brand trat zurück. Ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, dass sie mit der Wirkung ihrer Worte zufrieden war.
»Behauptest du, den Mörder zu kennen?«, fragte Varonessa.
Naif hielt den Atem an. Was würde passieren, wenn jetzt Lenoirs Name genannt wurde?
Auf einmal verspürte sie einen übermächtigen Drang, die Flucht zu ergreifen. Doch dieses Bedürfnis war nicht ihres, es war Lenoirs. Er hatte ihre Anwesenheit gespürt, ohne sie zu sehen, und schickte ihr eine Warnung. Flieh .
Sie kämpfte gegen den Drang an und drückte sich enger an die Säule. Markes sah sie, und auf seinem Gesicht malte sich eine Mischung aus Entsetzen und Flehen.
Widerstreitende Gefühle lähmten sie. Was würde aus Markes werden, wenn sie jetzt ging? Was würde mit ihnen beiden geschehen, wenn sie blieb?
»Ich habe ihn getötet, Varonessa«, sagte Lenoir in die gespannte Stille hinein.
Die Riper begannen Fragen und Anschuldigungen herauszuschreien.
»RUHE !« Varonessas Stimme schnitt durch den Lärm, ohne dass sie sie besonders erhoben hatte.
Naif spürte noch das Anschwellen einer anderen Kraft – wie Bänder, die sich fest um ihre Glieder schlossen. Jemand hatte die Kontrolle über den Raum übernommen, sorgte für Ordnung. Entweder war es Varonessa oder – Lenoir.
»Lenoir, erkläre dich«, befahl Varonessa.
Lenoir blieb dort stehen, wo er war. »Leyste ist einem der Neuankömmlinge gefolgt. Er sah sie, wie sie aus der Aufnahme kam, und hat sie seitdem nicht mehr aus den Augen gelassen. Auf einem Weg in der Nähe von Agios hat er die Lichtschaltrelais manipuliert, um sie dann anzugreifen.«
»Er hat das Licht manipuliert?« Varonessa klang schockiert.
Wieder lief ein Murmeln durch den Kreis.
»Das ist nicht möglich, Lenoir«, sagte Varonessa.
»Nicht für einen von ihnen«, stimmte Lenoir ihr zu. »Aber für einen von uns. Einer unter uns hat Leyste geholfen. Das dürfen wir nicht zulassen. Das entspricht nicht unserer Abmachung.«
Die Spannung im Raum schien Naif die Luft abzuschnüren, so als hätte ihr jemand die Schlinge eines Seiles um den Kopf gelegt und sie aufgehängt. Sie schnappte nach Luft und versuchte damit aufzuhören. Jemand würde sie hören. Jemand musste …
Aber alle Riper hatten sich nun Modai zugewandt. Der stieß einen Schrei aus, der ihr das Blut in den Adern gerinnen ließ, und stürmte auf Lenoir zu.
Lenoir ließ ihn herankommen und gab ihm dann einen kraftvollen Schlag mit der Handkante auf die Seite des Halses. Modai stolperte zurück, als wäre sein Genick gebrochen, hielt sich aber weiterhin aufrecht.
Mit diesem Angriff war plötzlich der Bann gebrochen, mit dem jemand den Raum belegt hatte, und die Riper fielen übereinander her.
Brand stürzte sich auf Lenoir, Modai auf Test, und sie schlugen mit ihren scharfen Krallen und einer erstaunlichen Kraft aufeinander ein. Die Höhle hallte von ihren schrillen Schreien wider, als sich die gegnerischen Fraktionen mit der Grausamkeit wilder Tiere gegenseitig zerrissen.
Naif, die endlich wieder zu Atem kam, rannte zu Markes hinüber und löste die Fesseln. Ohne dass einer von ihnen etwas sagte, schob Naif ihre Schulter in seine Achsel und zog ihn mit sich zur Treppe. Sie blickte nicht zu Lenoir und dem blutigen Gemetzel zurück, obwohl sie es gern getan hätte. Sie würde auch so wissen, wie es ihm ergangen war. Sie würde es spüren. So schickte sie, während sie und Markes zu den Steinstufen hinüberstolperten, Lenoir nur einen einzelnen Gedanken.
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