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Rette mich vor dir

Rette mich vor dir

Titel: Rette mich vor dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
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nicht gesehen, er hat sich nicht mehr bewegt, und ich habe ihn umgebracht. Warner ist absolut still, gibt keinen Ton von sich, während ich ihn schrecklich beschimpfe und ihm vorwerfe, dass er viel zu kaltherzig ist, um zu begreifen, was Trauer ist, und ich merke erst, dass er mich in seine Arme gezogen hat, als ich an seiner Brust liege, und ich wehre mich nicht. Ich wehre mich kein bisschen. Ich klammere mich an ihn, weil ich diese Wärme brauche, weil ich das Gefühl so sehr vermisst habe, von starken Armen gehalten zu werden, und mir wird erst jetzt bewusst, wie schnell ich dazu übergegangen war, Zuflucht zu der Heilwirkung einer kraftvollen Umarmung zu nehmen.
    Und wie entsetzlich ich sie vermisst habe.
    Und Warner hält mich einfach nur fest. Glättet mein Haar, streichelt mir sanft den Rücken, und ich höre sein Herz in einem seltsamen verrückten Rhythmus schlagen, der für einen Menschen viel zu schnell zu sein scheint.
    Er umfasst mich mit beiden Armen, als er sagt: »Du hast ihn nicht getötet, Süße.«
    »Du hast vielleicht nicht gesehen, was ich gesehen habe«, erwidere ich.
    »Du hast die Situation ganz falsch verstanden. Du hast nichts getan, was ihn verletzt hat.«
    Ich schüttle den Kopf, an seiner Brust. »Was redest du da?«
    »Du hast nichts damit zu tun. Das weiß ich.«
    Ich löse mich von ihm. Suche seinen Blick. »Und woher willst du das wissen?«
    »Weil nicht du Kenji verletzt hast«, antwortet er. »Sondern ich.«

58
    »Was?«
    »Er ist nicht tot«, sagt Warner. »Nur schwer verletzt. Ich gehe davon aus, dass man ihn heilen kann.«
    »Was«, Angst durchfährt mich, »wovon redest –«
    »Bitte, setz dich«, erwidert Warner. »Ich erkläre es dir.« Er lässt sich am Boden nieder und klopft auf die Stelle neben sich. Ich weiß nicht, was ich anderes tun sollte, als auf ihn zu hören. Außerdem sind meine Beine jetzt so zittrig, dass sie mich nicht mehr tragen wollen.
    Meine Glieder ziehen mich zu Boden, ich lehne mich neben Warner an die Wand. Unsere Schultern sind nur getrennt durch eine dünne Luftschicht.
    1
    2
    3 Sekunden verstreichen.
    »Ich wollte Castle nicht glauben, als er mir sagte, dass ich vielleicht auch eine … eine Gabe habe«, beginnt Warner. Er spricht so leise, dass ich angestrengt horchen muss, obwohl ich direkt neben ihm sitze. »Zuerst habe ich noch gehofft, dass er mich einfach nur in den Irrsinn treiben wollte.« Er seufzt. »Aber als ich darüber nachdachte, ergab das schon irgendwie Sinn. Castle hat mir auch von Kent erzählt. Dass er dich berühren kann und wie sie herausgefunden haben, weshalb. Im ersten Moment dachte ich, dass ich vielleicht so eine ähnliche Fähigkeit habe. Etwas vergleichbar Sinnloses. Und Nutzloses.« Er lacht. »Ich wollte es jedenfalls nicht wirklich glauben.«
    »Es ist keine nutzlose Fähigkeit«, höre ich mich sagen.
    »Ach ja?« Er schaut mich von der Seite an. Unsere Schultern berühren sich beinahe. »Erzähl mal, Süße. Was kann er denn machen?«
    »Er kann Dinge außer Kraft setzen. Die Fähigkeiten anderer.«
    »Stimmt. Und wozu soll ihm das nützen? Dass er die Kräfte seiner eigenen Leute außer Kraft setzen kann? Das ist doch absurd. Verschwendung. Absolut keine Hilfe in diesem Krieg.«
    Seine Äußerung macht mich wütend, aber ich beschließe, nicht darauf zu reagieren. »Was hat das alles mit Kenji zu tun?«
    Warner blickt geradeaus. Seine Stimme klingt weicher, als er sagt: »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich deine Energie jetzt im Moment ganz genau spüren kann? Ihre Beschaffenheit? Ihr Gewicht?«
    Ich starre ihn an. Betrachte prüfend sein Gesicht, horche auf den ernsten behutsamen Tonfall. »Ja«, antworte ich. »Ich würde dir wohl glauben.«
    Warner lächelt, beinahe wehmütig. »Ich kann«, sagt er und holt tief Luft, »deine Gefühle extrem stark spüren. Und weil ich dich kenne, kann ich diese Gefühle auch zuordnen. Ich weiß zum Beispiel, dass die Angst, die du jetzt gerade empfindest, nichts mit mir, sondern mit dir selbst zu tun hat. Mit deinen Befürchtungen, was du Kenji angetan haben könntest. Ich spüre dein Zögern – dein Widerstreben zu glauben, dass es nicht deine Schuld war. Und ich kann deine Traurigkeit, deinen Kummer spüren.«
    »Ist das wahr?«, frage ich.
    Er nickt, ohne mich anzusehen.
    »Ich wusste nicht, dass so was möglich ist«, sage ich.
    »Ich auch nicht – und ich war mir meiner Fähigkeit auch nicht bewusst«, sagt Warner. »Ich hielt es für normal, die

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