Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rette mich vor dir

Rette mich vor dir

Titel: Rette mich vor dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
Vom Netzwerk:
Lebenskraft auszusaugen und sie tot auf der Straße liegen zu lassen, weil jemand mir den Auftrag dazu gibt. Weil jemand sagt: »Diese Typen da drüben, das sind die Bösen.« Töte sie, weil du uns vertrauen kannst. Töte, weil du für die richtige Seite kämpfst. Töte, weil die böse sind und wir gut. Töte, weil wir es dir befehlen. Denn manche Menschen sind dumm genug zu glauben, dass es leuchtende Neonschranken gibt, die Gut von Böse trennen. Dass man diese Unterscheidung ganz leicht treffen und nachts mit ruhigem Gewissen schlafen kann. Weil man das Recht dazu hat.
    Weil man das Recht dazu hat, einen Menschen zu töten, wenn ein anderer ihm das Lebensrecht abspricht.
    Was ich wirklich sagen möchte, ist: Für wen zum Teufel haltet ihr euch, dass ihr entscheiden dürft, wer sterben soll? Dass ihr entscheidet, wer getötet wird? Dass ihr mir sagen dürft, welchen Vater ich vernichten soll, welches Kind ich zur Waise machen soll, welche Mutter ihren Sohn und welcher Bruder seine Schwester verlieren soll, welche Großmutter für den Rest des Lebens frühmorgens weint, weil man ihr Enkelkind vor ihr in die Erde gelegt hat?
    Was ich wirklich sagen will, ist: Für wen zum Teufel haltet ihr euch, dass ihr euch anmaßt, mir zu sagen, es sei fantastisch, wenn man etwas Lebendiges töten kann, es sei interessant, wenn man eine andere Seele verführen kann, es sei gerecht, sich ein Opfer zu suchen, nur weil ich imstande bin, ohne Waffe zu töten? Ich möchte gemeine und wütende und verletzende Dinge sagen und fluchen und weit weit weglaufen; ich will verschwinden am Horizont, und ich will im Straßengraben schlafen, wenn ich dafür etwas bekommen kann, was auch nur im entferntesten Freiheit ähnelt, aber ich weiß nicht, wo ich hingehen soll. Ich kann nirgendwo hin.
    Und ich fühle mich verantwortlich.
    Weil es Momente gibt, in denen die Wut verfliegt und nur ein dumpfer Schmerz in meinem Bauch zurückbleibt, und dann sehe ich die Welt und die Menschen und frage mich, wie alles so werden konnte, und ich denke über Hoffnung und Chancen und Möglichkeiten nach. Über Trinkgläser, die halb voll sind. Über Opfer, die man bringt. Und über Kompromisse. Ich denke darüber nach, was geschieht, wenn niemand sich zur Wehr setzt. Über eine Welt, in der sich keiner wehrt gegen Unrecht.
    Und dann frage ich mich, ob die Leute von Omega Point nicht vielleicht Recht haben.
    Ob man nicht wirklich kämpfen sollte.
    Ob es unter Umständen legitim ist, Töten als Mittel zum Zweck zu betrachten. Und ich denke an Kenji. An seine Worte. Und frage mich, ob er mich immer noch so fantastisch fände, wenn er meine Beute wäre.
    Wohl eher nicht.

26
    Kenji wartet schon auf mich.
    Er sitzt mit Winston und Brendan am selben Tisch, und ich rutsche auf die Bank.
    »Er ist nicht da«, sagt Kenji mit vollem Mund.
    »Was?« Ich finde Löffel und Gabel und den Tisch gerade ungemein faszinierend.
    »Nicht hier«, wiederholt Kenji kauend.
    Winston räuspert sich, kratzt sich am Kopf. Brendan bewegt sein Bein.
    »Ah. Ich – ich, äm –« Das Blut steigt mir zu Kopf, als ich aufschaue. Ich will die drei fragen, wo Adam steckt, warum er nicht hier am Tisch sitzt, wie es ihm geht, ob er regelmäßig isst. Ich will eine Million Fragen stellen, auf die ich lieber verzichten sollte, aber es ist sonnenklar, dass keiner von ihnen über die Details meines Privatlebens reden möchte. Und ich will nicht mehr dieses erbärmliche traurige Mädchen sein. Ich will kein Mitleid. Ich will nicht dieses beklommene Mitgefühl in ihren Augen sehen.
    Deshalb setze ich mich aufrecht hin. Räuspere mich.
    »Was hört man von den Patrouillen?«, frage ich Winston. »Wird es schlimmer?«
    Winston blickt überrascht auf. Schluckt sein Essen zu schnell hinunter und hustet ein paar Mal. Trinkt einen Schluck von dem teerschwarzen Kaffee und beugt sich vor. »Es wird jedenfalls immer seltsamer«, antwortet er.
    »Inwiefern?«
    »Wisst ihr noch, wie ich euch erzählt habe, dass Warner jeden Abend auftaucht?«
    Warner. Ich werde das Bild von seinem lächelnden, lachenden Gesicht nicht mehr los.
    Wir nicken alle.
    »Tja.« Winston lehnt sich zurück. Hält die Hände hoch. »Gestern Abend? Nichts.«
    »Nichts?« Brendans Augenbrauen schießen hoch. »Was meinst du mit ›nichts‹?«
    »Ich meine, dass niemand da war.« Winston zuckt die Achseln. Greift wieder zu seiner Gabel. »Nicht ein einziger Soldat und Warner auch nicht. In der Nacht davor?« Er blickt in die Runde. »Irgendwas

Weitere Kostenlose Bücher