Rette mich vor dir
Stille zwischen uns hat 1000 unschuldige Sekunden gemetzelt, und als Warner schließlich spricht, ist seine Stimme kaum vernehmbar und rau.
»Du bemitleidest mich.«
Mir stockt der Atem. Meine Entschiedenheit gerät ins Wanken.
»Du glaubst, ich sei eine Art kaputtes Projekt, das man reparieren kann.«
»Nein – ich –«
»Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich getan habe!« Wütend tritt er auf mich zu. »Du hast keine Ahnung, was ich erlebt habe, woran ich teilhaben musste. Du hast keine Ahnung, wozu ich fähig bin oder wie viel Mitgefühl ich verdiene. Ich kenne mein eigenes Herz«, sagt er aufgebracht. »Ich weiß, wer ich bin. Wage es nicht, mich zu bemitleiden!«
Oh, meine Beine funktionieren wirklich nicht mehr.
»Ich habe geglaubt, du könntest mich so lieben, wie ich bin«, sagt er. »Ich habe geglaubt, du würdest der einzige Mensch auf dieser gottverlassenen Welt sein, der mich so akzeptiert, wie ich bin! Ich habe geglaubt, dass du als einziger Mensch mich verstehen würdest.« Sein Gesicht ist ganz dicht vor mir, als er sagt: »Ich habe mich geirrt. Ich habe mich furchtbar geirrt.«
Er weicht zurück. Nimmt sein Hemd und will hinausgehen, und ich sollte nichts dagegen tun, ich sollte ihn zur Tür hinaus und aus meinem Leben gehen lassen, aber ich kann es nicht, ich packe ihn am Arm, ziehe ihn zurück und sage: »Bitte – so habe ich es nicht gemeint –«
Er fährt herum und faucht: »Ich will kein Mitleid von dir –«
»Ich wollte dich nicht verletzen –«
»Die Wahrheit«, sagt er, »ist eine schmerzhafte Erinnerung daran, weshalb ich lieber mit Lügen lebe.«
Ich kann den Ausdruck seiner Augen nicht verkraften, den wüsten, schlimmen Schmerz, den zu verhehlen er sich nicht bemüht. Ich weiß nicht, was ich sagen kann, um das wieder gutzumachen. Ich weiß nicht, wie ich meine Worte zurücknehmen soll.
Ich weiß nur, dass er nicht weggehen soll.
Nicht so.
Er sieht aus, als wolle er etwas sagen; überlegt es sich anders. Atmet kurz ein, presst die Lippen zusammen, als dürften die Worte nicht entkommen, und ich will etwas sagen, will es noch einmal versuchen, als er zittrig einatmet und sagt: »Lebewohl, Juliette.«
Und ich weiß nicht, weshalb mich das beinahe umbringt, ich verstehe meine plötzliche Angst nicht, und ich muss es wissen, ich muss es aussprechen, ich muss die Frage stellen, die keine Frage ist, und ich sage: »Ich sehe dich nicht wieder.«
Ich sehe, wie er um Worte ringt, wie er sich mir zuwendet, wieder abwendet, und für den Bruchteil einer Sekunde erkenne ich, was geschehen ist, erkenne ich den Unterschied in seinen Augen, die Gefühle, zu denen ich ihn für außerstande gehalten hatte, und ich weiß, ich verstehe, weshalb er mich nicht anschaut, und ich kann es nicht glauben. Ich will zu Boden sinken, als er mit sich kämpft, um Worte kämpft, gegen das Zittern in seiner Stimme ankämpft, als er dann schließlich hervorbringt: »Ich hoffe nicht.«
Und das war’s.
Er geht hinaus.
Ich bin in 2 Hälften gespalten, und er ist verschwunden.
Für immer.
63
Das Frühstück ist eine einzige Tortur.
Warner ist verschwunden und hat ein großes Chaos hinterlassen.
Niemand weiß, wie er flüchten konnte, wie er aus Omega Point entkommen konnte, und alle geben Castle die Schuld. Alle sagen, es sei idiotisch gewesen, Warner zu vertrauen, ihm eine Chance zu geben, zu glauben, er könne sich geändert haben.
Wut ist gar kein Ausdruck für die angestaute Aggression im Raum.
Aber ich werde nicht die Person sein, die allen erzählt, dass Warner gestern Nacht bereits frei herumlief. Ich werde nicht berichten, dass er den Ausgang vermutlich nicht lange suchen musste. Ich werde nicht erklären, dass er alles andere als dumm ist.
Ich bin mir sicher, dass es ein Leichtes für ihn war, den Ausgang zu finden. Und an den Wachen vorbeizukommen.
Jetzt sind alle zum Kampf bereit, aber aus den falschen Gründen. Sie wollen Warner umbringen – zum einen wegen seiner Taten, zum anderen wegen des Verrats. Und alle fragen sich besorgt, ob er wichtige Informationen weitergeben könnte. Ich weiß nicht, was Warner in Omega Point in Erfahrung gebracht hat, aber was jetzt geschehen wird, kann so oder so nichts Gutes sein.
Die meisten rühren ihr Frühstück kaum an.
Wir sind in voller Montur und bewaffnet, bereit, dem Tod ins Auge zu blicken, und ich fühle mich wie betäubt. Ich konnte nachts keine Minute schlafen, so innerlich zerrissen war ich, und nun spüre ich meine Glieder
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