Rette mich
war, alles mit Vee zu besprechen.
Unten nahm ich Moms BlackBerry von der Arbeitsplatte und trug ihn hoch in mein Zimmer. Als ich auf dem Friedhof aufgewacht war, hatte ich mein Handy nicht bei mir gehabt, und bis ich mir Ersatz beschafft hatte, musste ich ihres nehmen.
ICH BIN’S, NORA. KANNST DU REDEN? , schrieb ich Vee. Es war spät, und Vees Mutter bestand darauf, dass um zehn das Licht aus war. Wenn ich sie anrief und ihre Mutter das Klingeln hörte, dann könnte das Vee eine Menge Ärger einbringen. Wie ich Mrs. Sky kannte, würde sie keine Ausnahme machen, nicht einmal unter diesen besonderen Umständen.
Einen Augenblick später zirpte der BlackBerry.
KLEINE!?!!!!! DREH DURCH. VÖLLIG HINÜBER. WO BIST DU?
RUF MICH UNTER DIESER NUMMER AN.
Ich legte den BlackBerry in meinen Schoß und nagte an der Spitze meines Fingernagels. Ich konnte nicht glauben, dass ich so nervös war. Das war Vee . Aber beste Freundinnen oder nicht, wir hatten seit Monaten nicht miteinander gesprochen. Es kam mir zwar nicht so lang vor, aber so war es. Ich dachte an die beiden Redensarten »Die Liebe wächst mit der Entfernung« gegen »Aus den Augen, aus dem Sinn« und hoffte ganz klar auf das Erste.
Obwohl ich Vees Anruf erwartete, zuckte ich doch zusammen, als der Blackberry klingelte.
»Hallo? Hallo?«, sagte Vee.
Ihre Stimme zu hören ließ meine Kehle vor Aufregung eng werden.
»Ich bin’s«, sagte ich erstickt.
»Wurde auch Zeit«, grollte sie, aber ihre Stimme hörte sich auch belegt und gerührt an. »Ich war gestern den ganzen Tag im Krankenhaus, aber sie haben mir nicht erlaubt, dich zu sehen. Ich bin dem Sicherheitsdienst entkommen, aber dann haben sie Code neunundneunzig ausgerufen und mich eingefangen. Dann haben sie mich in Handschellen abgeführt, und ich meine mit abgeführt, dass es dabei eine Menge Tritte und Beleidigungen von beiden Seiten gab. So wie ich das sehe, war deine Mutter die einzige Kriminelle bei der ganzen Sache. Keine Besucher ? Ich bin deine beste Freundin, oder hat sie das Memo jedes Jahr nicht bekommen – seit elf Jahren? Nächstes Mal, wenn ich bei dir bin, werde ich mit den Fäusten auf diese Frau losgehen.«
Ich merkte, wie meine bebenden Lippen sich im Dunkeln zu einem Lächeln verzogen. Ich hielt das Telefon an meine Brust, hin- und hergerissen zwischen Lachen und Weinen. Ich hätte wissen müssen, dass Vee mich nicht im Stich lassen würde. Die Erinnerung an alles, was so schrecklich verkehrt gelaufen war, seit ich auf dem Friedhof aufgewacht war, wurde schnell von der einfachen Tatsache verdrängt, dass ich die beste Freundin der Welt hatte. Vielleicht hatte sich alles andere geändert, aber meine Beziehung zu Vee war felsenfest. Wir waren unzertrennlich. Nichts konnte das ändern.
»Vee«, hauchte ich, ein Seufzer der Erleichterung. Ich wollte mich in der Normalität dieses Augenblicks sonnen. Es war spät, wir sollten eigentlich schlafen, und hier waren wir, plauderten bei ausgeschalteten Lichtern. Letztes Jahr hatte Vees Mutter ihr Handy in den Müll geworfen, nachdem sie uns dabei erwischt hatte, wie wir miteinander telefoniert hatten, als wir eigentlich schlafen sollten. Am nächsten Morgen war Vee vor den Augen der gesamten Nachbarschaft auf der Suche danach in die verschiedenen Mülltonnen getaucht. Sie benutzt dieses Handy noch immer. Wir nennen es Oscar, nach Oscar aus der Mülltonne.
»Geben sie dir gute Drogen?«, fragte Vee. »Anthony Amowitz’ Vater ist Apotheker, ich könnte dir wahrscheinlich ein paar gute Sachen auftreiben.«
Meine Augenbrauen hoben sich überrascht. »Was meinst du? Du und Anthony?«
»Nein, das doch nicht. Ich hab den Männern abgeschworen. Wenn ich Romantik brauche, dann hab ich dafür Netflix.«
Das glaube ich erst, wenn ich es sehe, dachte ich schmunzelnd. »Wo ist meine beste Freundin, und was hast du mit ihr angestellt?«
»Ich bin auf Jungsentzug. Wie bei einer Diät, aber für mein emotionales Wohlbefinden. Aber egal, ich komme vorbei«, fuhr Vee fort. »Ich hab meine beste Freundin drei Monate lang nicht gesehen, und dieses Wiedersehen per Telefon ist Mist. Mädchen, ich werde dir zeigen, wie ein Bär umarmt.«
»Viel Glück beim Versuch, an meiner Mutter vorbeizukommen«, sagte ich. »Sie ist seit neuestem im Verband der Helikopter-Eltern.«
» Diese Frau!«, zischte Vee. »Ich bekreuzige mich gerade.«
Wir konnten den Status meiner Mutter als Hexe ein andermal debattieren. Im Moment hatten wir wichtigere Dinge zu besprechen.
Weitere Kostenlose Bücher