Rettungskreuzer Ikarus Band 009 - Seer'Tak City-Blues
von dem er ausgeschlossen worden
war. Plötzlich fühlte er sich ... allein.
Als Lear die feingliedrige Hand auf eines der Sensorfelder legte, hielt er für
einen winzigen Augenblick inne und betrachtete die gespannte, glatte Haut auf
seinen Fingern. Er ertappte sich in letzter Zeit immer wieder dabei, anstatt
der direkten neuralen Vernetzung physische Schaltelemente zu verwenden, als
würde er damit ein bestimmtes, nicht genau erfassbares Lustgefühl
verbinden. Vielleicht eine Art von Selbstbestätigung, eine Art materielles
Bewusstmachen der eigenen Existenz?
Lear hatte im Verlaufe seines Lebens nie besonders viel Gelegenheit gehabt,
sich über metaphysische Gesetzmäßigkeiten Gedanken zu machen,
denn jedes Mal, wenn er erwacht war, hatte er mehr als genug zu tun gehabt,
und nach dem Ende der Mission war er wieder in den zeitlosen Dämmerzustand
versunken, der ihn die Äonen überdauern ließ.
Nun jedoch, da die ihm einstmals zur Verfügung stehenden Hilfsmittel auf
ein Mindestmaß zusammengeschrumpft waren und er selbst persönlich
eingreifen musste, um die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen, wurde
er sich auch in zunehmendem Maße seiner selbst bewusst – inklusive
aller Unzulänglichkeiten und Einschränkungen – vor allem der
natürlichen Begrenzungen materieller Existenz. Die Erweiterung dieser durch
die Attotechnologie ließ in der Funktion immer stärker nach. Der
Verfall dieser Hilfsmittel war nicht aufzuhalten und er musste sich in einem
noch nie gekannten Maße auf die Werkzeuge seines Körpers verlassen,
um Erkenntnisse zu gewinnen und Handlungen zu vollführen.
Doch der Blick in die Probabilitäten war ihm immer noch möglich, und
sein Eingreifen hatte sich bisher immer ausgezahlt. Jetzt strömten die
Wahrscheinlichkeiten auf einen Kulminationspunkt zu, und die Akteure kamen zusammen.
Der Knoten übermittelte ihm eine immer kleiner werdende Anzahl von Möglichkeiten,
während gleichzeitig die Zahl der Protagonisten am Ereignisstrang übermäßig
anstieg. Doch Lear hatte zu keinem Zeitpunkt alles unter Kontrolle gehabt –
er konnte manche Dinge beeinflussen, das war aber auch schon alles. Trat er
zu offensiv auf, würde der Gegner auf ihn aufmerksam werden – und
die Zeiten, da er der Macht des Feindes persönlich entgegentreten konnte,
waren lange vorbei.
Hin und wieder griff Lears Geist in die Galaxien hinaus, um noch einen Abdruck
der Adlaten zu finden, doch bisher war seine Suche erfolglos gewesen. Bis er
mögliche Kandidaten für den Adlatenstatus fand, musste er sich auf
die Chancen beschränken, die ihm die diversen Wahrscheinlichkeiten boten.
Etwas störte das Bild. Nicht nur, dass der Feind in einem weitaus direkterem
und schmerzhafterem Maße als bisher tätig wurde und eine unmittelbare
Konfrontation mit Lears Schützlingen immer wahrscheinlicher wurde, ein
neuer Spieler hatte sich eingemischt.
Als Lear aus seiner Warte die Ankunft des Kirchenschiffes bemerkt hatte, war
seine Aufmerksamkeit nur kurz auf dieses gerichtet gewesen. Doch der Knoten
hatte ihm Berechnungen geliefert, die gleichzeitig bedrohlich wie verheißungsvoll
waren. Mit der Ankunft der Kirche war der Fächer der Möglichkeiten
wieder größer geworden, und diesmal durchaus eher in Richtung eines
positiven Ausgangs. Doch die Unsicherheiten blieben. Wenn der Gegner direkt
eingriff, konnte eine der wichtigen Handlungsgruppen paralysiert werden. Die
Frau war ein Faktor, der noch unberechenbar war.
Lear konnte nicht alles wissen. Unwissenheit schmerzte ihn. Er wog für
einen winzigen Augenblick die Chancen eines persönlichen Eingreifens ab,
doch verwarf er die Idee sogleich wieder. Die Risiken waren zu groß, die
Zeit noch nicht reif. Er musste darauf hoffen, dass alle richtig handelten.
Viel vermochte er nicht zu tun, um dies zu beeinflussen.
Dann wandte sich Lear der Anomalie zu. Es würde Schmerz verursachen, Tod
und Leid, aber wenn sich die Wahrscheinlichkeiten so verbanden, wie der Knoten
es berechnete, würde es Lears Aufgabe sein, die Anomalie zu aktivieren.
Er musste nur den richtigen Zeitpunkt abwarten.
4.
» Wer ist angekommen?«
Die nur schwer beherrschte Wut in Kronprinz Jorans Stimme erfüllte den
Raum und ließ die untergeordneten Chargen in der Zentrale von Kefir Hammets
Machtbereich zusammenzucken. Hammet selbst wirkte äußerlich ungerührt,
als er Giordana Amhap kurz zunickte
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