Rettungskreuzer Ikarus Band 017 - Das Anande-Komplott
dass in dem Körper dieser Wesen ein beständiger Kampf von Giften
und Gegengiften wogte, von dem sie allerdings nichts bemerkten. Es war für
sie normal und gesund.
Für alle anderen Völker wurde diese Eigenschaft der Kant'Takki allerdings
höchst interessant, als sich herausstellte, dass deren körpereigene
Pharmafabrik auch Stoffe herstellte, die für andere Lebewesen als Heilmittel
verwendet werden konnten. Die wichtigste Substanz von allen war das nur im embryonalen
Stadium entstehende Prodenirin, das einzige bekannte Mittel gegen die weit verbreitete
– und bis dahin unheilbare – Denir-Seuche, die immer wieder zahlreiche
Welten wie ein Alptraum heimsuchte. Obschon sonst sehr zurückhaltend, akzeptierte
das Volk der Kant'Takki diese enorme Verantwortung, die Zufall und Evolution
ihnen auferlegt hatte, denn ihre fast auf ganz Urus verbreitete Ethik gebot
ihnen, Leben zu schützen und zu bewahren. Jedem gesunden und kräftigen
Embryo wurde eine kleine Menge Prodenirin entnommen und zur Weiterverarbeitung
an Konzerne wie die » Holy Spirit Medics« nach St. Salusa geschickt,
um dort zum Heilmittel Denirin verarbeitet zu werden.
Die Kant'Takki nutzten ihre Monopolstellung keinesfalls aus und nahmen nur einen
geringen Preis für die wichtige Substanz. Aber eines war unabdingbarer
Teil dieses Handels: dass sie die völlige, uneingeschränkte und unbeeinflusste
Verfügungsgewalt über das Prodenirin und seine Gewinnung behielten
und die Integrität und die Rechte des werdenden Lebens in keiner Weise
gefährdet wurden. Die Welten brauchten große Mengen des Stoffes gegen
die Denir-Seuche, und die Kant'Takki hätten zehnmal so viel für einen
zehnmal höhere Preis verkaufen und eines der reichsten Völker der
Galaxis werden können. Doch das hätte die Entwicklung und das Befinden
ihrer werdenden Kinder bedroht, und das war für ein Volk, das das Leben
so sehr ehrte wie die Kant'Takki, ein unmöglicher Gedanke.
Allerdings kein Gedanke, der nicht jemand anderem kommen konnte ...
Jovian Anande lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Datei über
die Kant'Takki. Keines der Bilder dieser Spezies hatte Erinnerungen oder Gefühle
bei ihm ausgelöst. Für einen Moment hatte ihn das erleichtert –
aber dann hatte er die Sache nüchterner betrachtet. Ganz abgesehen davon,
dass die Gehirnoperation bei ihm alle Erinnerungen an Kant'Takki gelöscht
haben konnte, selbst wenn seine Ziehgeschwister und seine erste große
Liebe welche gewesen wären, musste er als Gentechniker auch keinesfalls
mit den erwachsenen Exemplaren einer Spezies zusammen treffen, um »an ihnen
zu arbeiten«. Eine Stammzelle dort, eine vielleicht auch unfreiwillige
Genprobe hier – es war durchaus möglich, aus einem Tropfen Blut eines
Kant'Takki vermehrungsfähiges Genmaterial zu gewinnen. Er hatte so etwas
schon gemacht, auch auf der Ikarus . Aber niemals, um ein Wesen neu zu
erschaffen. Oder gar Hunderte, Tausende ... Wenn er die erhöhte Denirin-Produktion
des » HSM «-Konzerns verursacht hatte, wie hätte er das
tun können?
Vor seinem geistigen Auge tauchten Brutkammern auf, deren stille Nährflüssigkeit
von einem bläulichen Licht erhellt wurde – und in jeder Kammer schwamm
der Embryo eines Kant'Takki, ein kleines Lebewesen ohne jede Zukunft. Es erhielt
Nährstoffe über eine Sonde und trug eine zweite, die tief aus seinem
Inneren das Prodenirin aus den Organen saugte. Winzige, kostbare Mengen, die
sich zu einem unglaublichen Vermögen sammelten. Tausende von Kammern. Tausende
von Embryonen. Abertausende von Krediten.
Anande spürte einen Würgereiz in sich aufsteigen und trank hastig
einen Schluck längst erkalteten Tee. Hatte er so etwas gemacht? Eine Massenerschaffung
und einen Massenmord begangen? Und wenn ja, wofür? Um den von der Denir-Seuche
Betroffenen zu helfen? Auf der Suche nach Ruhm und Anerkennung? Oder nur nach
Geld? Mit zitternden Händen stellte der Arzt der Ikarus die Teeschale
zurück auf den kleinen Tisch. Der üble Geschmack in seinem Mund ließ
sich nicht vertreiben, ebenso wenig wie die Bilder in seinem Kopf. Wie nie zuvor
in seinem bewussten Leben verspürte Anande Abscheu, Entsetzen und Ekel.
Dabei wusste er noch nicht einmal, wovor überhaupt.
Vielleicht vor sich selbst.
Die Atmosphäre in dem Beratungsraum, in dem die Ikarus -Crew sich
traf, war angespannt. Sie alle hatten mitbekommen, dass irgendetwas
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