Rettungskreuzer Ikarus Band 017 - Das Anande-Komplott
Finesse dafür nötig, die kein mir bekannter
Arzt bieten könnte. Zudem bedarf es einer technischen Ausstattung, die
die meisten Krankenhäuser nicht haben – ihnen würde bei einem
Versuch der Patient schlichtweg unter den Händen wegsterben, oder er würde
als komplett aller Erinnerung und allen Wissens beraubtes Wesen auf dem Stand
eines Kleinkindes daraus hervorgehen. Dieser Eingriff wurde von einem wahren
Meister seines Faches vorgenommen – bedauerlicherweise einem, dem die Grundsätze
der Ärzteschaft nichts bedeuten und der den Eid mit Füßen tritt.«
»Könnte dieser ›Meister seines Faches‹ auch der Angeklagte
selber gewesen sein?«
»Meiner Ansicht nach: nein, auf gar keinen Fall. Soweit ich weiß,
ist Doktor Anande Spezialist im Bereich der Gentechnik. Er soll auch ein guter
Chirurg sein. Aber um das hier zu machen, ist ›gut‹ nicht genug –
Spitzenklasse ist das Minimum. Und darüber hinaus ist es unmöglich,
den Eingriff bei sich selber vorzunehmen. Keine OP-Speichereinheit ist in der
Lage, diese hochkomplexen Vorgänge zu übernehmen. Hier hilft keine
noch so moderne Technik. Was hier nötig war, ist das menschliche Element
... man könnte sagen, dass Genie des Chirurgen.«
Hwang Thang atmete innerlich erleichtert auf und hoffte, auch Anande würde
mitbekommen haben, welchen kleinen, aber vielleicht entscheidenden Vorteil sie
eben errungen hatten. Zudem machte es eine Facette des Wahnsinns in dem früheren
Anande unmöglich, die sehr erschreckend gewesen wäre – seine
gesamte Vergangenheit zu opfern, um damit vielleicht die Zukunft zu retten.
Ein kurzer Blick hinüber zu Gregor von Bussev zeigte Thang, dass seinem
Gegenspieler bewusst war, dass er ein mögliches Ass verloren hatte. Für
den Moment zufrieden richtete Thang seine Aufmerksamkeit wieder auf die Richterin.
»Ist es möglich, die Erinnerungen von Doktor Anande wieder zu beschaffen,
durch irgendeine Art von regenerativer Medizin?«
»Nein. Schlichtweg nein. Was weg ist, ist in diesem Fall wirklich weg.
Es mögen kleinere Sequenzen wieder auftauchen, die gewissermaßen
von dem Chirurgen ›übersehen‹ worden sind, und sich in Träumen
oder Déjà vus manifestieren. Aber mehr nicht.«
»Und es ist sicher, dass keine zusammenhängenden Erinnerungen mehr
vorhanden sind?«
Der Arzt hob in einer resignierten Geste die Hände.
»So sicher, Euer Ehren, wie ein Blick in einen leeren Eimer einem sagt,
dass er leer ist. Vermutlich war der Angeklagte nach dem Eingriff zudem noch
in einem länger anhaltenden Schockzustand, so dass selbst die ›neuen‹
Erinnerungen lückenhaft sein werden. Es würde mich sehr wundern, wenn
er sich an die Zeit direkt nach der Operation erinnern könnte. Ich habe
niemals zuvor einen vergleichbaren, derartig kompletten und umfassenden Eingriff
gesehen und hoffe auch, dass ich das niemals mehr tun werde.«
Die Richterin Arna Botha schwieg für einen Moment und lehnte sich dann
vor.
»Sie sind offensichtlich über das, was dem Angeklagten widerfahren
ist, sehr empört. Können Sie uns genauer erläutern, weswegen?«
Für einen Moment schien es, als wäre Doktor Nicolas über diese
nüchterne Frage erbost, aber dann beherrschte er sich.
»Meines Erachtens, Euer Ehren, ist das, was Doktor Anande angetan worden
ist, mit einem Mord vergleichbar. Wir sind zum großen Teil die Summe aller
Erlebnisse und Erfahrungen, die wir gemacht haben. Sie sind entscheidend für
die Ausformung unseres Charakters, sowohl im Guten als auch im Schlechten. Jemandem
all diese Erfahrungen zu nehmen, bedeutet, ihm seine Persönlichkeit zu
nehmen. Eine Pflanze ist lebendig, hat aber kein Wissen und keine Gefühle
in dem Sinne, wie wir es verstehen. Ein Computer hat Wissen, aber kein Leben.
Aber ein Mensch hat Leben und Wissen und verbindet beides zu einem einzigartigen
Ganzen, welches das jeweilige Individuum ausmacht. Jemanden am Leben zu lassen,
ihm aber seine Erinnerungen zu nehmen, bedeutet zwar keinen Mord an einer Person,
aber definitiv an einer Persönlichkeit.«
»Doktor Anande hat nach der Erinnerungslöschung neue Erfahrungen gesammelt.
Meinen Sie, dass er somit auch eine neue Persönlichkeit hat?«
Die Frage war kurz und fast beiläufig, aber die Spannung im Raum stieg
sofort, und alle Augen richteten sich auf Doktor Nicolas. Der Arzt nahm sich
Zeit, um sich eine Antwort zu überlegen, doch dann kam sie mit aller
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