Rettungskreuzer Ikarus Band 017 - Das Anande-Komplott
Bestimmtheit.
»Ich denke ja. Selbst wenn Fragmente seiner alten Erinnerungen und seiner
Sichtweisen noch da sein sollten, so sind sie nun im Kontext der neuen Lebensweise
eingebettet und werden auch in ihm beurteilt. Menschen ändern sich auch
so mit der Zeit – verantwortungslose Jugendliche werden zu respektablen
Erwachsenen, unbeschwerte Leute durch schlimme Ereignisse zu depressiven Zynikern.
Das Leben hört nicht auf, uns zu formen – nur meistens gibt es uns
mehr Zeit dafür. Ich halte nicht viel von den Theorien einer genetisch
vorbestimmten Persönlichkeit. Und darum denke ich, dass der Jovian Anande,
der heute hier sitzt, mit dem von vor der Operation nicht unbedingt viel zu
tun haben muss.«
»Ich danke Ihnen, Doktor Nicolas.«
Es gab eine kurze Pause, in der die Zuschauer auf den breiten Fluren des Gerichtsgebäudes
umherwanderten, sich in gedämpftem Tonfall über das bisher Geschehene
unterhielten und die Sonne genossen, die in breiten Bahnen durch die arkadenartigen
Fenster fiel.
Die Journalisten eilten zu ihren Übertragungsanlagen und schickten die
ersten Infos, Kurzberichte und Liveübertragungen an ihre Stationen –
der Gerichtssaal selber war abgeschirmt, und von dort aus konnte nichts nach
draußen dringen. Auch das Material, das die kleinen Kameras aufnahmen,
wurde erst noch von einer Kommission gesichtet und ganz oder teilweise freigegeben
und kam somit verspätet auf die Bildschirme. Jedes Mal, gerade bei größeren
Prozessen, gab es Proteste gegen diese Art der Zensur und Versuche, sie zu umgehen.
Jedes Mal zog das Gericht stoisch seine Prozedur durch, entledigte die Journalisten
in einer Sensorkontrolle all ihrer versteckten Minikameras und anderer Aufnahmegeräte
und drohte, dass alle Verhandlungen in Zukunft nur noch geheim stattfinden würden,
wenn es keine Kooperation gäbe. Auf diese Weise änderte sich schon
seit Jahren nichts.
Richterin Botha und ihre Beisitzer zogen sich zurück und keiner wusste,
ob sie nur einen Tee tranken oder erste Eindrücke austauschten. Die Vorsitzende
war den Kennern der Gerichtsszene als sehr zurückhaltend und, für
jemanden, der schon so lange Richterin war wie sie, sehr unvoreingenommen bekannt.
Sie gab nicht viel auf Antipathien, Sympathien oder scheinbar offensichtliche,
aber noch nicht belegte Umstände und verlangte von ihren Mitarbeitern die
gleiche Neutralität. Somit hätte ein zufälliger Lauscher, selbst
wenn das Beratungszimmer der Vorsitzenden nicht komplett schallisoliert gewesen
wäre, nicht mehr vernommen als das Klirren der Teetassen, die üblichen
Worte des Dankes an die anmutige Gerichtsdienerin, die einen Imbiss herumreichte,
und ein paar sehr allgemeine Bemerkungen über den Prozess. Für alles
andere war es einfach zu früh.
Hwang Thang nutzte die Zeit, um seinem Mandanten zu erklären, wie positiv
die Verhandlung im Grund für sie begonnen hatte – mit der Ablehnung
der Verlegung des Prozesses nach St. Salusa und dem Gutachten von Doktor Nicolas,
aber er hatte den Eindruck, dass er nicht wirklich zu Jovian Anande durchdrang.
Der Arzt nickte, lächelte sogar an den richtigen Stellen und murmelte irgendwelche
passenden Floskeln, aber im Grunde war er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Thang brauchte kein Telepath zu sein, um zu ahnen, dass es die Aufnahmen des
Embryos waren, die den Angeklagten verfolgten.
Sein Gegenspieler Gregor von Bussev wechselte in dieser Zeit ein paar letzte
Worte mit der ersten Zeugin, die er auch gleich nach dem neuen Beginn der Verhandlung,
als alle sich wieder in dem Saal eingefunden hatten und unter dem Ton des Kristallgongs
Ruhe eingekehrt war, aufrief.
»Ich bitte Professor Anna Sorren in den Zeugenstand.«
Hwang Thang bemerkte, wie sein Mandant neben ihm zusammen zuckte und gebannt
auf die Seitentür starrte, die sich nun öffnete. Eine hochgewachsene,
hagere und gut gekleidete Frau mittleren Alters trat ein und ging zu der silbernen
Sensorplatte hinüber, die ihre Identität bestätigen würde.
Dabei irrte ihr Blick für einen Moment fast widerstrebend in Richtung der
Anklagebank und verharrte ein paar Herzschläge lang auf Anande, ehe die
Zeugin sich abrupt abwandte.
»Sie kennen diese Frau?«, erkundigte sich der Anwalt verwundert, und
Anande nickte.
»Was man bei mir so kennen nennt. Ich habe von ihr geträumt und ihr
Gesicht in einer Fachpublikation wieder erkannt.«
»Das haben
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